Rojava: Kein Staat, sondern ein autonomes Projekt

Autor | 23. November 2014
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Melike Yasar und Hazina Osi (von links) referierten am Donnerstag in Konstanz zur Lage in Rojava und den Perspektiven des Modells der Demokratischen Autonomie (Foto: Nicolas Kienzler).

Man verteidigt zur Zeit nicht „nur“ Leib und Leben in Kobanê. Man verteidigt das Modell der demokratischen Autonomie. Ein Konzept, welches „nicht nur für den Nahen Osten, sondern auch für SozialistInnen anderswo zum Vorbild geworden ist“, sagt Jürgen Geiger vor etwa 50 Gästen im Wolkensteinsaal für DIE LINKE.Konstanz. Die Partei hatte Hazina Osi von der kurdischen PYD und Melike Yasar von der Internationalen Vertretung der kurdischen Frauenbewegung am Donnerstag zur Veranstaltung nach Konstanz eingeladen.

Kurdistan erlebte seit 1923 einige Teilungen. Hazina Osi, deren Ausführungen von Melike Yasar aus dem Kurdischen ins Deutsche übersetzt wurden, legte besonderen Wert auf diesen Teil der Geschichte. Da Kurdistan sich über Teile der Türkei, Syriens, des Iraks und des Irans erstreckt, hatte es die kurdische Bevölkerung vor allem in Hinblick auf die rechtliche Anerkennung und Selbstorganisation schwer. Nicht einmal Ausweispapiere gab es für sie. Vor allem im türkischen Teil wurde mit Repression gearbeitet: Kurdische Kultur und Sprache waren verboten.

Osi, von Anfang an am Aufbau des Projekts in Rojava beteiligt, macht deutlich: „Die Türkei und die arabischen Länder sind unzufrieden damit, dass wir jetzt ein System frei von Repression, selbstorganisiert, aufbauen.“ Seit Monaten seien „Leute von sieben bis siebzig Jahren“ daran beteiligt, „Kobanê zu verteidigen.“ Wie prekär die humanitäre Lage der Menschen ist, macht Hazina Osi auf Nachfrage deutlich: „Vor allem die Kinderernährung ist schwierig. Teilweise gibt es zehn Tage lang kein Brot.“ Die Menschen in Kobanê lebten auf der Straße oder in Schulgebäuden, die noch nicht zerstört worden sind. Dass die Türkei IS-Kämpfer über die Grenze lasse, während Nachschubwege für humanitäre Hilfe nicht geschaffen werden, erzürnt die Aktivistin besonders.

„Wir sind kein Volk, das den Krieg liebt“

Dass es PYD und PKK nicht um Krieg geht, unterstreicht Osi außerdem: „Wir sind kein Volk, das den Krieg liebt, aber wir werden uns verteidigen, wenn wir von außen bedroht werden.“ Und verteidigenswert ist es wohl, dass es in Rojava jetzt Wahlen gibt, dass ethnische wie religiöse Minderheiten in Entscheidungsprozesse eingebunden sind, vor allem auch, dass die Bewegung von Feministinnen getragen wird.

PKK will Unabhängigkeit und keinen Staat

Melike Yasar stellte heraus, dass es den Willen nach einem unabhängigen Kurdistan schon seit Jahrzehnten gab. So ist „Rojava das Resultat des 40 Jahre dauernden Kampfes der PKK. Heute will die PKK zwar noch ein unabhängiges Kurdistan aber keinen eigenen Staat mehr.“ Die kurdische Bewegung habe seit 1999 ihre Strategie grundlegend geändert. „Das System des demokratischen Konförderalismus trat in den Vordergrund. Viele haben damals nicht verstanden, weswegen wir keinen Staat haben wollten. Abdullah (Öcalan, der PKK-Vorsitzende, d.R.) hat im Gefängnis mit seinen Notizen beschrieben, wie ein Kurdistan aussehen sollte, das die Fehler anderer Staaten nicht wiederholen sollte. Ein Staat ist hierarchisch. Ein Staat fängt von oben nach unten an. Wenn man sich das wie eine Pyramide vorstellt, dann hätten wir diese einfach umdrehen können, dann stünde oben die Bevölkerung und unten der Staat, aber trotzdem wäre es wieder ein System, das von oben nach unten aufgebaut ist.“

Innerhalb der kurdischen Bewegung habe es so einen langen Reflektionsprozess gegeben, in dem man Kritik und Selbstkritik geübt habe. Das Resultat war, dass man sich gezwungen sah, die Frauenpolitik ins Zentrum der neuen Bewegung zu stellen, um den äußerst patriarchalen Verhältnissen der Region etwas entgegenzusetzen. „Die kurdischen Frauen haben einen sehr harten Diskurs um den Begriff der „Ehre“ geführt. Ich bin niemandes Ehre. Meine Ehre ist meine Freiheit“, verdeutlicht Yasar.

Um zu verhindern, dass neue Hierarchien entstehen, gingen FunktionärInnen anschließend in die Zivilbevölkerung, um in verschiedensten Lebensbereichen mit ihnen zu diskutieren. Bewusst habe sich die PKK 1999 entschieden, sieben Jahre lang nicht zu kämpfen.

Kritik an USA um IS-Aufbau

Scharf brandmarkt Yasar die Außenpolitik der westlichen Länder, insbesondere der USA, die den IS mitaufgebaut hätte: „Wieso? Der IS wurde aufgebaut, um den nahen Osten in ihrem Sinne neu strukturieren zu können.“ Das sei ganz im Sinne imperialistischer Mentalität: „Das Prinzip war, die eine Diktatur durch eine andere zu ersetzen. Aber die kurdische Bevölkerung wollte etwas ganz anderes.“

Wie kann Hilfe konkret aussehen?

Vor allem wünscht sich Melike Yasar Solidarität von demokratischen, feministischen Organisationen, „die meinen, dass eine andere Welt möglich ist.“ „Von Europa aus kann man Delegationen nach Rojava schicken, damit sich diese informieren können, was die Bedürfnisse der Bevölkerung, der Frauen, der Verteidigungseinheiten sind.“ In der Schweiz sei man gerade dabei, zwischen einigen Kantonen der Schweiz und Kantonen Kurdistans eine Partnerschaft aufzubauen. Zwar ist man sich dessen bewusst, dass man mit hierarchischen Staaten verhandelt, dennoch seien diese Gespräche strategisch unheimlich wichtig. Ganz handfeste Solidarität demonstrierten an diesem Abend die BesucherInnen: Bei einer Spendensammlung für das “Newroz Camp”, ein Flüchtlingslager in Rojava, in dem vor allem JezidInnen Zuflucht finden, kamen mehr als 600 Euro zusammen.

PKK-Verbot aufheben

Jürgen Geiger forderte unterdessen erneut eine Aufhebung des PKK-Verbots, die eine Hauptlast im Kampf gegen den IS trage: „Es wird auch momentan eine notwendige Solidaritätsarbeit mit der Arbeiterpartei Kurdistans kriminalisiert und verfolgt. Im Oktober sprach die linke Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke auf einer Kundgebung zum Thema Kurdistan und zeigte zum Schluss eine Flagge mit dem Symbol der PKK. Sie ist dort noch vor Ort festgenommen worden und vor kurzem wurde ihre Immunität als Bundestagsabgeordnete aufgehoben und jetzt wird sie strafrechtlich verfolgt. Warum sage ich das? Die Bundesregierung behält sich vor, kurdische Solidaritätsarbeit nach wie vor zu kriminalisieren. Und ich bin der Meinung, dass wir als Menschen insgesamt einen sehr großen Druck aufbauen können, dass die Bundesregierung nach mehr als 20 Jahren dieses PKK-Verbot endlich beseitigt.“ Seine Forderung zum Schluss: „Das PKK-Verbot muss weg.“

Ryk Fechner

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