Über “heimische Bürger” und Fremde

Autor | 21. September 2015

Refugees-welcomeIn der öffentlichen Diskussion über die Unterbringung der Flüchtlinge, die es geschafft haben, die Grenzen der Festung Europa zu überwinden, und von denen nun mehrere hundert in Konstanz untergebracht werden sollen, ist häufig von der Gefahr die Rede, man könnte damit die „heimischen Bürger“ überfordern. Zuletzt hat der Oberbürgermeister gar kategorisch erklärt, die Grenzen der Aufnahmefähigkeit seien in Konstanz erreicht. Mit der Heimischkeit von Bürgern ist es aber so eine Sache. Wann zählt man denn zu diesem erlauchten Kreis? Nach 2 Jahren oder 5, nach 10, 20 oder muss man gar hier geboren sein. Nicht nur im letzten Fall hätten in Konstanz viele ganz schlechte Karten.

Denn Tatsache ist: Die Stadt wird seit Jahren vor allem durch Zuwanderung geprägt. Laut städtischer Statistik wuchs die Wohnbevölkerung von 2004 bis 2014 von 76.012 EinwohnerInnen auf 83.179. Im Schnitt sind in der letzten Dekade also jedes Jahr 716 Menschen neu nach Konstanz gezogen (die Wegzüge schon berücksichtigt), Tendenz übrigens steigend – allein in den letzten beiden Jahren waren es mehr als 2.000 Neubürger_innen, die sich bei uns niedergelassen haben.

Weder von Seiten der Politik noch den vielen „besorgten Bürgern“, die jetzt lautstark Alarm schlagen, wurde das auch nur ansatzweise als Problem oder gar Gefahr für das gesellschaftliche Gefüge des Gemeinwesens gesehen. Im Gegenteil: Man begrüßte es stets als Zeichen für die Attraktivität einer prosperierenden Stadt.

Jetzt aber wollen die lokalen politischen Verantwortungsträger plötzlich damit überfordert sein, einige hundert Menschen mehr unterzubringen und ins städtische Leben zu integrieren. Das ist beschämend und entlarvend.

Beschämend nicht nur, weil dabei um Menschen geschachert wird, die vor Krieg und Not aus ihrer Heimat fliehen mußten und unserer Hilfe bedürfen. Es sollte eigentlich vor allem auch den AnhängerInnen einer globalisierten Wirtschafts(un)ordnung die Schamröte ins Gesicht treiben, zu deren Hauptprofiteuren Länder wie unseres zweifelsfrei gehören. „Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt“ – diese antikapitalische Parole gilt heute mehr denn je.

Entlarvend, weil es zeigt, dass es in der herrschenden Politik mitnichten um die sozialen Interessen von Menschen ohne Ansehen ihrer Herkunft geht, sondern darum, die Kosten für die eigene Klientel (meistens deutsch, manchmal wohlhabend, ganz selten reich – aber Hey, wir reden hier über die Leistungsträger!) zumindest möglichst gering zu halten, wenn nicht gar Kapital daraus zu schlagen. Denn inzwischen dämmert vor allem manchen Freunden „der Wirtschaft“, dass man selbst mit dem massenhaften Flüchtlingselend noch gute Geschäfte machen könnte, vorausgesetzt, die Flüchtenden würden nach ihrer Verwertbarkeit als willige und billige Arbeitskräfte vorsortiert.

Dass es in dieser Stadt wie im ganzen Land inzwischen sehr viele gibt, die solch zynischen sozialdarwinistischen Kosten-Nutzen-Rechnungen eine klare Absage erteilen und den Neuankömmlingen stattdessen helfend zur Seite stehen, ist eine der besten und ermutigendsten Nachrichten seit langem.

Selbstverständlich: die Integration der Neubürger_innen wird es nicht zum Nulltarif geben. In Konstanz ist es vor allem fehlender Wohnraum, der Probleme bereitet. Die in der Stadt herrschende Wohnungsnot ist entstanden, weil die bürgerlich dominierte Kommunalpolitik in einer wachsenden Stadt (siehe oben) das Feld des Wohnungsbaus, eigentlich genuine Aufgabe der kommunalen Daseinsvorsorge, weitgehend privaten Anlegern überlassen hat. Gebaut wird bis heute vor allem, was Profit verspricht. Das hat nicht nur dazu geführt, dass zu wenig Wohnraum entstand, sondern vor allem solcher, den sich immer mehr Leute immer häufiger nicht mehr leisten können.

Das „Handlungsprogramm Wohnen“, das schließlich als Reaktion darauf beschlossen wurde, wird in der jetzigen Form wenig daran ändern, ob mit oder ohne Flüchtlinge. Denn es weist eine erhebliche soziale Schieflage auf, vernachlässigt es doch auf sträfliche Weise dieses stetig wachsenden “untere Segment”. Konstanz fehlen vor allem Wohnungen für Menschen mit niedrigen Einkommen. Dieses Problem ist Ergebnis einer asozialen Politik, es besteht schon lange und seine Lösung wird durch die Ankunft der Flüchtlinge nur noch drängender.

Wer jetzt, wie jüngst der Konstanzer OB, lamentiert, die Stadt könne keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen, lenkt nur von der Tatsache ab, dass die behauptete Überforderung die Folge der neoliberalen Dogmen ist, von denen er und seinesgleichen sich leiten lassen. Die Stadt hat kein Problem mit einigen hundert hilfebedürftigen Menschen, sie hat ein generelles Problem mit der Verteilungsgerechtigkeit. Die Antwort – nicht nur in der Wohnungspolitik – kann nur heißen, das Ruder endlich herumzureißen: Wir müssem massiv in den Ausbau der sozialen Infrastruktur investieren. Das würde nicht nur den Flüchtlingen nutzen, sondern auch die Lebensbedingungen von nicht wenigen „Einheimischen“ verbessern. Denn der Widerspruch verläuft nicht zwischen ersteren und letzteren, er verläuft zwischen unten und oben

Dieses Krisengerede ist aber auch deshalb brandgefährlich, weil es Wasser auf die Mühlen von Rassisten und Rechtsextremen lenkt, die in der jetzigen Situation Morgenluft wittern und arme Leute auf noch ärmere hetzen wollen. Nicht nur landauf, landab brennende Flüchtlingsunterkünfte zeugen von der Gefahr, die sich hier zusammenballt.

Jürgen Geiger

WORTLAUT | Katja Kipping: Die inszenierte Flüchtlingskrise – „Der politische Umgang mit den Flüchtlingen stellt uns hierzulande nicht nur vor eine moralische Entscheidung, sondern auch vor eine politische Schicksalsfrage. Wie sie beantworten wird, wird wesentlich auch darüber entscheiden, wie wir alle in Zukunft leben können und welche sozialen Perspektiven wir selber haben werden. Entweder rüsten wir endlich die mit Stacheldrahtzäunen und Bewegungsmeldern geschützte Wagenburg Europa ab und beginnen damit jene Verhältnisse zu verändern, in denen geflüchtete Menschen wie Giftmüll behandelt werden – oder wir machen weiter wie bisher und nehmen in Kauf, dass Demokratie und Menschlichkeit, ja wir selbst als demokratische Subjekte, dabei irreparable Schäden erleiden. Denn in einer Festung Europa, geschweige denn einer, die sich im Kriegszustand gegen geflüchtete Menschen befindet, kann sich keine demokratische Gesellschaft entwickeln. Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein, hat Friederich Nietzsche einmal gesagt.“

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