Ministerium will Konstanzer Flüchtlingskinder mitten im Schuljahr aus dem Land werfen

Autor | 13. Mai 2015
Schulkinder sollen ausreisen

Das baden-württembergische Innenministerium will Konstanzer Flüchtlingskinder vor Ende des Schuljahres zur Ausreise zwingen. Bild: Kundgebung für Bleiberecht im Februar auf der Marktstätte.

Noch nicht einmal das Schuljahr sollen sie abschließen dürfen: Sollten die Kinder der Familien Kazimov aus Mazedonien und Selimi aus Serbien nicht bis Ende Mai das Land verlassen haben, wollen die Behörden sie zusammen mit ihren Eltern abschieben lassen, obwohl verschiedene Gruppen und zahlreiche Einzelpersonen sich für ihren Verbleib in Konstanz eingesetzt hatten. Zuletzt demonstrierten im Februar rund 120 Menschen auf der Konstanzer Markstätte dafür, dass die Geflüchteten bleiben dürfen. Auch die Linke Liste Konstanz und der Kreisverband der Linken hatten sich für eine Duldung der Roma-Flüchtlinge stark gemacht.

Die grün-rote Landesregierung ist offenbar jedoch entschlossen, ihre harte Gangart vor allem gegenüber Balkan-Flüchtlingen kompromisslos durchzusetzen. Die Regierung Kretschmann hat mit dafür gesorgt, dass Mazedonien und Serbien als “sicher” und Roma als nicht verfolgt deklariert wurden. Zahlreiche gegenteilige Erkenntnisse, auf die Flüchtlingsorganisationen wie “Pro Asyl” und Amnesty International hingewiesen hatten, übergingen die Verantwortlichen bei Bund und Ländern. Seitdem lässt Stuttgart vor allem Asylsuchende aus den Balkanländern im Monatsrhythmus zu Hunderten abschieben.

Dabei wäre es im aktuellen Konstanzer Fall lediglich um zwei Monate gegangen. Denn die beiden Familien hatten angesichts der harten Haltung der Behörden schließlich resigniert und einer Ausreise zugestimmt – sie baten lediglich um einen Aufschub bis Ende Juli, um ihren Kindern zumindest den Abschluß des Schuljahres zu ermöglichen. Doch noch nicht einmal das will das Innenministerium zugestehen. Haben die fünf Erwachsenen und sieben schulpflichtigen Kinder bis Monatsende das Land nicht verlassen, wird sie die Polizei zwangsweise aus ihren Unterkünften in der Steinstraße holen – nach guter deutscher Übung voraussichtlich wieder in den frühen Morgenstunden.

Nicht zum ersten Mal erweist sich in diesem Fall wieder, dass die von Kretschmann verkündete Behauptung, bei Abschiebungen nach Serbien oder Mazedonien finde immer eine Einzelfallprüfung der Rückkehrsituation statt, ein reines Lippenbekenntnis ist. Zudem, darauf weist der Konstanzer Anwalt der Familien hin, verstößt das Innenministerium gegen die eigenen Richtlinien. Diese besagen unter anderem nämlich, dass die Ausreisefrist “unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlängert werden” könne, wenn sich “schlüssig” ergebe, dass “eine freiwillige Ausreise ernsthaft beabsichtigt ist”.

Nicht nur deshalb verlangt deshalb der “Arbeitskreis Roma-Solidarität im Landkreis Konstanz” vom Innenministerium jetzt eine Prüfung des Falls. Er verweist auch darauf, dass Innenminister Gall (SPD) mehrfach öffentlich bekundet hatte, aus Baden-Württemberg würde niemand in die Mittel- und Obdachlosigkeit abgeschoben. Genau dies aber wäre bei den Konstanzer Familien zu befürchten.  Die Linke Liste und der Kreisverband der Linken schließen sich der Forderung nach einer Einzelfallprüfung an.

Mittlerweile hat sich auch die Linke-Bundestagsabgeordnete Annette Groth mit einem offenen Brief an den Ministerpräsidenten und seinen Innenminister zu Wort gemeldet. Darin erklärt sie unter anderem, angesichts “der völligen Perspektivlosigkeit (kein Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt), Diskriminierung und elendster Lebensverhältnisse für Roma in den Westbalkanstaaten sind für mich die seit Monaten stattfindenden Abschiebungen völlig inakzeptabel. Jegliche humanitäre Maßstäbe werden hier mit Hinweis auf die sogenannten „sicheren“ Herkunftsländer mit Füßen getreten.” Sie hält Kretschmann vor, er sei vor vier Jahren mit dem Motto “Humanität hat Vorrang” angetreten. “Ich fordere Sie auf, den den Familien Selimi und Kazimov wenigstens zweieinhalb Monate dieser Humanität einzuräumen.”

jüg

WORTLAUT | Innenministerium Baden-Württemberg bleibt hart: Schulkinder sollen mitten im Schuljahr ausreisen

Viele Menschen in Konstanz unterstützen die Kinder der Familien Selimi aus Serbien und Kazimov aus Mazedonien, denen nun die Abschiebung angedroht wird, wenn sie bis Ende Mai Deutschland nicht verlassen haben. Zuletzt setzte sich der Runde Tisch zur Begleitung von Flüchtlingen in Konstanz für ein Bleiberecht bis Schuljahresende ein. Die Behörden zeigen sich jedoch kompromisslos.

Im Februar versammelten sich rund 100 Bürgerinnen und Bürger an der Markstätte und forderten ein generelles Bleiberecht für die Familien in Deutschland. Dafür treten auch der Arbeitskreis Roma-Solidarität, der Runde Tisch zur Begleitung von Flüchtlingen der Stadt Konstanz sowie die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Konstanz ein. Ein Bleiberecht fordert auch der neugewählte Vorstand im Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, Jürgen Weber.

Nun sollen die Kinder statt ihrer Schultaschen bis Ende Mai die Koffer packen. Die Familien stimmen ohnehin einer Ausreise zu Schuljahresende, also lediglich zwei Monate später, zu. Diese Information liegt den zuständigen Stellen schriftlich vor. Der Konstanzer Rechtsanwalt Rudy Haenel, der die Familien vertritt, kann das Verhalten der Behörden und des Ministeriums nicht verstehen. Die Leitlinien des Innenministeriums Baden-Württemberg für die Rückkehr und Abschiebepraxis im Land besagen: „Bei einem Vollzug der Rückführung hat die freiwillige Rückkehr der Ausreisepflichtigen, insbesondere von Familien mit minderjährigen Kindern grundsätzlich Vorrang“. Und wie im Falle der Konstanzer Familien: „Die Ausreisefrist kann unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls angemessen verlänger werden, wenn sich aus dem Vortrag des Ausreisepflichtigen schlüssig ergibt, dass eine freiwillige Ausreise ernsthaft beabsichtigt ist“.

Obwohl die Familien große Hilfe durch ehrenamtliche Helferinnen und Helfer erfahren ist eine Vorbereitung der Ausreise bis 29.5., wie vom zuständigen Regierungspräsidium Karlsruhe gefordert, nicht möglich, willkürlich und unverhältnismäßig.

Zur sofortigen Ausreise bis Monatsende aufgefordert sind insgesamt fünf Erwachsene und sieben minderjährige Kinder der Familien, die derzeit in der Konstanzer Sammelunterkunft in der Steinstraße leben. Ansonsten droht die polizeiliche Abschiebung in den frühen Morgenstunden von dort. Drei der Kinder gehen zur Geschwister Scholl Schule, zwei besuchen Konstanzer Grundschulen. In Serbien und Mazedonien ist den Kindern der Zugang zu Bildung verwehrt und die Gesundheitsversorgung gefährdet.

Das Regierungspräsidium ist aufgerufen die Rückkehrsituation im Einzelnen zu prüfen. Dieser Prüfung entzieht sich die Behörde. Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte mehrfach darauf hingewiesen, dass bei einer geplanten Abschiebung nach Serbien oder Mazedonien immer eine Einzelfallprüfung der Rückkehrsituation stattfindet.

Diese Prüfung und verbindliche Zusagen fordert nun auch der Arbeitskreis Roma-Solidarität, schließlich hat auch Innenminister Reinhold Gall (SPD) mehrfach öffentlich bekundet, dass aus Baden-Württemberg keine Abschiebungen in die Mittel- und Obdachlosigkeit erfolgen würden.

Genau dies wäre aber bei den Konstanzer Familien der Fall. Es gibt keine Mittel oder Unterkünfte in welche die Familien nach über einem Jahr Flucht zurückkehren könnten. Es zeigt sich, dass der verheerende Fall der Familie Ametovic aus Freiburg kein Einzelfall ist. Den Worten aus Stuttgart stehen gegenteilige und belegbare Tatsachen entgegen.

Jürgen Weber, Vorstand des Flüchtlingsrat Baden-Württemberg, hat bei der Landesregierung um Kontakte zu den serbischen und mazedonischen Behörden ersucht. Er erwägt mit einer Delegationsreise die Verhältnisse für die Konstanzer Familien vor Ort zu prüfen. „Armut ist nicht der Fluchtgrund, sondern Folge von Mehrfachdiskriminierungen von Roma in diesen Ländern und damit sehr wohl eine Verfolgung im Sinne des Grundrechtes auf Asyl. Gerade für Deutschland gilt dies, welches die Verfolgung und Ermordung von rund 500.000 Sinti und Roma in Europa zu verantworten hat“, so Weber.

Der Arbeitskreis Roma-Solidarität verweist auch auf die bewaffneten Unruhen der letzten Tage in Mazedonien. Die Situation in den so genannten „sicheren Herkunftsländern“ wird immer instabiler und für Roma prekärer und muss für diese Länder erneut grundsätzlich überprüft werden.

Roswitha Schmid und Monika Schickel
für den Arbeitskreis Roma-Solidarität im Landkreis Konstanz – „Alle Kinder bleiben hier!“

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