Gedanken zu Rassismus-Vorwürfen: Was ich schon immer über IntegraNAtion wissen wollte

Autor | 17. April 2020

Liebe Konstanzer*innen, kennen Sie die „Konstanzer Erklärung FÜR eine Kultur der Anerkennung und – GEGEN Rassismus?“ (Link) Falls nicht, ist das durchaus verständlich. Sie wurde schon 2012 vom damaligen Oberbürgermeister und Gemeinderat unterzeichnet und wird seither nur selten erwähnt, obwohl sie durchaus Potential hat, für einen angemessenen Umgang mit Diskriminierung und Rassismus zu sensibilisieren.

Sie beginnt mit folgender Vision:

„Konstanz versteht sich als weltoffene, liberale Stadt, die sich für Chancengleichheit aller Menschen, die in ihr leben, einsetzt. Unabhängig von nationaler, kultureller und ethnischer Zugehörigkeit aber auch unabhängig von Alter, Geschlecht, Weltanschauung und Lebensstil sollen Menschen in Konstanz gleiche Chancen in der Gesellschaft haben. Wir sind uns bewusst, dass es auch in Konstanz Rassismus gibt und wollen daran arbeiten, ihm überall entgegen zu treten. Wir setzen uns dafür ein, dass in unseren Institutionen eine Kultur der Anerkennung gepflegt wird.“

Konstanz könnte stolz sein auf diese Erklärung. Um ihr aber eine zivilgesellschaftliche Bedeutung bei zu messen, sollten zumindest städtische Verantwortungsträger*innen

  1. sich positiv zu ihr bekennen,
  2. auch fachlich in der Lage sein, verschiedene Formen von Rassismus und rassifizierenden Handlungen und Aussagen zu erkennen und benennen zu können und
  3. in der Lage sein, souverän und politisch verantwortlich mit Rassismus-Vorwürfen umgehen zu können.

Punkt 2. und 3. sind diskussionswürdig in Bezug auf die mehrtägige Einzäunung der unter Quarantäne stehenden Anschlussunterkunft Atrium – eine der Konstanzer Erklärung unwürdige Maßnahme.

Den klassischen Stöhner*innen à la „nicht schon wieder diese Rassismuskeulen“ empfehle ich hier aufzuhören, diesen Text zu lesen.

Den Krisenmanager*innen der Kommune gebührt unbestritten Respekt für ihre aktuelle Arbeit. Dennoch war die Einzäunung von Menschen ein gravierender Fehler und in der Tat ein Vorgang, bei dem man über behördlichen Rassismus nachdenken muss. Zumal er, bedauerlicher Weise, wie jetzt in Radolfzell, Nachahmung findet.

Warum ist das bisher ausschließliche Einzäunen von geflüchteten Menschen in Quarantäne rassistisch?

  1. Einer Gruppe von Menschen werden Merkmale zugeschrieben, die sie als problematisch unterschiedlich/anders markieren.
  2. Es wird der Anschein erweckt, dieses Anders-Sein läge in ihrer „Natur“ oder „Kultur.“
  3. Dadurch sei eine ausschließende Sonderbehandlung dieser Menschen legitimiert.
  4. Diese Gruppe von Menschen wird im Verhältnis zum Rest der Gesellschaft abwertend positioniert (vgl. Maureen Maisha Eggers).
  5. Mündet eine öffentliche Legitimierung von Rassismus in seiner Institutionalisierung.

Rassismus aufgrund von rassifizierenden Zuschreibungen und Sonderbehandlungen

Objektiv betrachtet, haben die Bewohner*innen im Atrium als Gruppe ein gemeinsames Merkmal: sie haben eine Flucht hinter sich. Daraus ergibt sich ihr sozialer Status und damit einhergehende Erschwernisse bzw. Nachteile in unserer Gesellschaft, wie die schlechten Wohnbedingungen. Weswegen sie auch eine zentrale Zielgruppe integrativer Maßnahmen sind, die ihnen ein Ankommen in dieser Gesellschaft ermöglichen sollten. Aus ihrem gemeinsamen Merkmal ergeben sich keine gemeinsamen, ihnen innewohnenden Charakter- oder Mentalitätseigenschaften, die Ihnen zugeschrieben werden könnten – das wäre rassistisch, ausgrenzend und desintegrativ.

Die Stadt Konstanz schreibt am Ostersonntag: „(…) Die Gefahr, dass die Dynamik sonst nicht unter Kontrolle behalten werden kann, erscheint als sehr hoch (…).“ „Die Situation sei zunächst unübersichtlich gewesen,“ ergänzt der Landrat in einem Artikel des Südkuriers vom 15.04. Beide Aussagen sind keine Erklärungen. Vielmehr bieten sie Spielraum für Verdächtigungen, Spekulationen und Ressentiments über die Bewohner*innen. In der Pressemitteilung der Stadt vom 14.04. heißt es dann, es sei ein „reger Besuchsverkehr“ vernommen worden und es sei beobachtet worden, dass Besucher über die Balkone eingestiegen seien. Selbiges hätte auch das Landratsamt in anderen Gemeinschaftsunterkünften schon beobachtet.

Die Expert*innen konnten also aufgrund von Beobachtungen, bei den Bewohner*innen, sogar von verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften, ein gemeinsames, abweichendes Verhalten feststellen: sie empfangen Besucher*innen und dies sei aufgrund des Besitzes von Balkonen nicht kontrollierbar. Gerne hätte ich die Expert*innen beim Beobachten der Balkone beobachtet. Außerdem erfahren wir aus dem Südkurierartikel, dass sie ihre Gemeinschaftsküche nicht sauber hielten, weswegen diese nachts verschlossen werden müsste. Auch diese Information erklärt die einzäunende Sonderbehandlung nicht. Sie zeugt aber von unreflektiertem Journalismus und ganz nebenbei von desaströsen Wohnbedingungen. Sollte es nicht eine Schande sein, dass Menschen nachts der Zugang zu ihrer Küche verwehrt wird?

Warum wurden keine weiteren Einrichtungen, die ebenfalls unter Quarantäne stehen, unter polizeilicher Aufsicht eingezäunt, fragen sich manche – vielleicht haben die keine unkontrollierbaren Balkone? Oder sie haben Balkone, werden aber nicht von Expert*innen beobachtet?  Soweit die zu Grunde liegenden Fakten, mit großem Mut zur Lücke, die diese Sonderbehandlung der unter Quarantäne Stehenden legitimieren sollen.

Rassismus und Verleugnung

In der rassismuskritischen Forschung spricht man von typischen, meist unbewussten, Abwehrmechanismen der Rassismus ausübenden Personen, wenn sie denn auf ihre Rassismen aufmerksam gemacht wird, dazu gehört die Verleugnung, wie auch die wütende Reaktion (vgl. Paul Gilroy).

Der Bürgermeister für Soziales legt in einem Statement zu den Rassismus-Vorwürfen, noch ein paar kritische Schippen drauf. Nach dem Motto Angriff ist die beste Verteidigung, schreibt er: „Der Rassismus-Vorwurf ist abwegig und geht an der Sache völlig vorbei.“ Eine Erklärung für die Sondermaßnahme folgt indes nicht. Wir erfahren auch nicht, warum das Einzäunen nicht rassistisch sein soll. Wir erfahren nicht einmal, dass die Stadt nicht die Absicht hatte, rassistisch zu handeln, was durchaus glaubwürdig wäre. Dann, ein Schelm, wer das für diplomatisch hält, dreht er den Spieß um und unterstellt der Konstanzer Seebrücke, ihr offener Brief würde städtische Kolleg*innen und Helfer*innen „verletzen“. Vielleicht hat er nicht gemerkt, dass der Brief an die Verantwortlichen der Stadt gerichtet wurde. Vielleicht hat er auch nicht gemerkt, dass die Verantwortlichen, die Verantwortung für ihre Entscheidungen tragen und keine Kolleg*innen und Helfer*innen den Zaun zu verantworten haben.

Wir erfahren über alle Kanäle von verschiedenen Akteuren, dass diese Akutmaßnahme absolut wichtig und richtig gewesen sei – aber niemand der Herren war bisher in der Lage, zwei vernünftige Argumente für den Zaun, in diesem Kontext, zu dieser Zeit, zu benennen. Wir erfahren auch nicht, warum es der Stadt bisher nicht möglich war, genau diese Gruppe von Menschen, die aufgrund der menschenunwürdigen Unterbringung im Atrium, eine von der Corona-Gefahr besonders betroffene Gruppe ist, anderweitig unterzubringen – mit oder ohne Balkon.

Die Herren haben aktuell einen definitiv schweren Job. Doch besonders in Zeiten von Corona, von Fake News, von Populismus und erstarkendem Rassismus ist es absolut verantwortungslos, Maßnahmen zu entwickeln für bestimmte Gruppen von Menschen, die auf keinerlei Fakten beruhen. Insbesondere für Menschen, die unserer Gesellschaft, mit und ohne Corona, von besonderen Ausgrenzungen gefährdet sind.

Mit „Gemeinsam können wir viel erreichen“ endet die Konstanzer Erklärung optimistisch und könnte vielleicht, würde mann sie entdecken und wertschätzen, einen konstruktiven Beitrag zur Integration leisten.

Abla Chaya (Foto: Konstanzer Seebrücke)

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