Das Handlungsprogramm Wohnen muss überdacht werden

Autor | 19. Mai 2016

Die monatlichen Flüchtlingszahlen sinken weiter sehr deutlich. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auf Bund, Länder und Gemeinden in den nächsten Jahren erhebliche Aufgaben bei der Versorgung mit angemessenem Wohnraum sowie der persönlichen und beruflichen Integration der bereits geflohenen Menschen zukommen. Das dürfte auch erhebliche Auswirkungen auf das Wohnen in Konstanz haben.

Der monatliche Bericht des Konstanzer Sozialbürgermeisters Andreas Osner dokumentiert die Tendenz der letzten Monate. Die regionalen Flüchtlingszahlen sanken von 556 im Januar über 148 im April auf 22 im Mai. Für 2016 rechnet der Landkreis insgesamt mit etwa 1980 unterzubringenden Flüchtlingen. „Aber all diese Schätzungen“, so Andreas Osner, „sind natürlich trügerisch, und schon morgen kann wieder alles ganz anders aussehen.“

Etwas mehr Platz für jeden Einzelnen

Was bedeuten die sinkenden Flüchtlingszahlen beispielsweise für das Leben der Flüchtlinge in den vom Landkreis verwalteten Konstanzer Erstunterbringungen und Notunterkünften?

Aufgrund einer Gesetzesänderung hat jeder Flüchtling seit dem 1. Januar Anspruch auf 7 Quadratmeter Fläche in einer Erstunterbringung, bis dahin waren es 4,5 Quadratmeter. Dieser Anspruch war aber angesichts der Flüchtlingszahlen des Jahres 2015 kaum zu verwirklichen. Das Gesetz wurde faktisch nicht umgesetzt und die Menschen blieben in oft belastender räumlicher Enge zusammengepfercht. Das Nachlassen der Flüchtlingszahlen macht es der Verwaltung jetzt möglich, den einzelnen Menschen mehr Platz zuzuweisen, da die (Not-)Unterkünfte weniger dicht belegt werden müssen. Wer eine solche Unterkunft von innen gesehen hat, weiß, dass das natürlich nicht ausreicht und kaum an Privatsphäre zu denken ist, aber jede noch so kleine Entlastung der Flüchtlinge ist zu begrüßen.

Trotz der rückläufigen Belegungszahlen denken Stadt und Landkreis aber weiter, denn es gilt, Reserven für künftige Notlagen zu schaffen, um im Zweifelsfall nicht wieder auf die eher menschenunwürdige Unterbringung in Turnhallen zurückgreifen zu müssen. So hat der Landkreis den Bauantrag für den Umbau der Tennishalle am Hörnle gestellt, auch wenn der eigentliche Umbau in weite Ferne zu rücken scheint. Dem Widerstand der zumeist gutbetuchten und teils unverhohlen rassistischen Wutbürger, der sich speziell an der Vermietung dieses Platzes entzündet hat, haben die Konstanzer Verantwortlichen in Politik und Verwaltung nicht nachgegeben. Ob dort aber irgendwann tatsächlich Flüchtlinge untergebracht werden, ist jetzt Sache des Landkreises und hängt von der Zahl der Neuankömmlinge ab. Auch die schnelle Verwirklichung anderer Flüchtlingsunterkünfte wie an der Line-Eid-Straße im Industriegebiet durch den Landkreis steht derzeit nicht zur Debatte. Momentan gibt es im Landkreis bereits mehr Plätze in Gemeinschaftsunterkünften als gebraucht werden, aber freie Flächen mit vorliegenden Baugenehmigungen erlauben später nötigenfalls schnelleres Handeln.

Folgen für das Handlungsprogramm Wohnen

Auf die Stadt hingegen kommt im Rahmen des Handlungsprogramms Wohnen die Aufgabe zu, für die dauerhafte Unterbringung jener Flüchtlinge zu sorgen, die die Gemeinschaftsunterkünfte verlassen dürfen. Die Verwaltung signalisierte bereits verhalten ihre Bereitschaft, die von der politischen Linken bereits seit längerem kritisierte soziale Austarierung des Handlungsprogramms noch einmal zu überdenken. Derzeit sind 2/3 der neuen Wohngelegenheiten im mittleren und höheren Preissegment geplant, was am tatsächlichen Bedarf vorbeigehen dürfte. Es gilt, das Handlungsprogramm Wohnen so zu überarbeiten, dass der Anteil an Wohnraum für wirtschaftlich schlechter oder normal gestellte KonstanzerInnen deutlich erhöht wird. Baubürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn denkt bereits öffentlich darüber nach, das Ziel des Handlungsprogramms von 5300 neuen Wohnungen um 1000 Wohnungen zu erhöhen und sozial entsprechend umzuschichten.

Die Lokalpolitik steht allüberall nicht nur durch die Flüchtlingsunterbringung unter starkem Druck. Der deutsche Wohnungsmarkt, auf dem die Zahl der Sozialwohnungen seit Jahren sehenden Auges reduziert wurde, bietet heute und morgen selbst Normalverdienern und -rentnern kaum noch bezahlbaren Wohnraum. Immer breitere Bevölkerungsschichten sind hier weitgehend chancenlos.

Keine Ghettos

Wenn man Medienberichte ernst nehmen muss, nach denen Vermieter massenhaft gegen die Regeln zur Mietpreisbegrenzung verstoßen, so dass etwa Berliner Mieter um ein Drittel zu hohe Mieten zahlen, wird klar, dass ohne einen schnellen und massenhaften Wohnungsbau durch die öffentlichen Hände an eine menschenwürdige Unterbringung unserer künftigen MitbürgerInnen nicht zu denken ist. Ganz abgesehen davon, dass es auf keinen Fall zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen anerkannten Flüchtlingen und anderen Niedrig- und Normalverdienern kommen darf. Karl Langensteiner-Schönborn wies mit Recht auch darauf hin, dass das Anschlusswohnen nicht zur Ghettobildung führen darf und daher von Anfang an sozial gemischte Neubauareale geplant werden müssen, die auch in ein paar Jahrzehnten noch lebenswerten Wohnraum in einem funktionierenden sozialen Umfeld bieten. Dass er für die Planungen eine neue Vollzeitstelle für sein Amt einrichtet, ist nur ein Anfang.

Wie es weitergeht, weiß niemand, deshalb sind Forderungen aus dem Gemeinderat, der Landkreis möge manche von ihm zur Erstunterbringung angemietete Grundstücke bald für andere Zwecke freigeben, voreilig. Man darf nicht vergessen, dass die derzeitigen Flüchtlingszahlen in Europa etwa durch die äußerst fragwürdige und brüchige Vereinbarung mit der Türkei künstlich kleingehalten werden. Wie weit aber der kranke Mann am Bosporus auch in ein paar Monaten dieses Spiel noch mitzuspielen bereit ist, steht ebenso in den Sternen wie die Entwicklung an der Küste Libyens oder in den Ländern des Nahen Ostens und Afrikas. Es werden noch tausende oder gar zehntausende weitere Menschen elendiglich im Mittelmeer ertrunken sein, ehe sich Politik und Verwaltung in Konstanz und anderswo vielleicht irgendwann wieder entspannen können.

O. Pugliese (zuerst erschienen bei seemoz.de)

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