Konstanzer Gemeinderat streitet um Ausrichtung des Handlungsprogramms Wohnen

Autor | 25. Juli 2014

Mietabzocke stoppenWohnungsmangel zu beheben heißt nicht einfach nur Wohnungen zu bauen, sondern Entscheidungen zu fällen, die Menschen existenziell betreffen – es gilt, sozial Farbe zu bekennen: Will ich Eigentumswohnungen, will ich sozialen Wohnungsbau, will ich Villen? Der unausweichliche Kampf darum, welche Schichten von dem Handlungsprogramm Wohnen, dem Gesellenstück von Oberbürgermeister Uli Burchardt, am Ende profitieren werden, begann gestern im Konstanzer Gemeinderat.

Vordergründig scheint alles ganz einfach. Gemeinderat und Verwaltung haben vor einiger Zeit erkannt, dass es so nicht weitergeht mit der Wohnungsnot, und sich die renommierten Gutachter von empirica ins Haus geholt, die den künftigen Bedarf ermittelten und Lösungsvorschläge unterbreiteten. Der Rat hat vor einem Jahr beschlossen, diesem Gutachten zu folgen. Der Oberbürgermeister verglich diesen Prozess gestern mit einem Gang zum Arzt, und nachdem dieser Arzt die Diagnose gestellt und die Therapie vorgeschlagen habe, gelte es jetzt, seinem ärztlichen Rat auch zu folgen, und dies mit Vollgas.

Die Diagnose

Die Ausgangslage, und hier zitiere ich die Vorlage der Verwaltung: „Zur Ermittlung des konkreten Konstanzer Wohnungsbedarfs hat das Institut empirica 2013 die ‚Wohnungsbedarfsprognose 2030 für die Stadt Konstanz’ erstellt. Demzufolge ist zur Deckung des Wohnungsbedarfs die Fertigstellung von ca. 5.300 Wohneinheiten für den Zeitraum 2011 bis 2030 erforderlich. Kurzfristig (Zeitraum 2011 bis 2015) besteht ein Bedarf von durchschnittlich 370 WE pro Jahr. Mittelfristig (Zeitraum 2015 bis 2020) sind durchschnittlich 300 WE pro Jahr und langfristig (Zeitraum 2021 bis 2030) durchschnittlich 180 Wohneinheiten pro Jahr fertig zu stellen. 78% der erforderlichen Wohnungen sollen im Geschosswohnungsbau und 22% als Ein- und Zweifamilienhäuser bzw. in kleineren überschaubaren Einheiten bis max. sechs Wohneinheiten pro Gebäude erstellt werden. […] Bedarf besteht vor allem im unteren und mittleren Preissegment. Für Haushalte mit mittleren und kleineren Einkommen ist es zunehmend schwierig, auf dem Konstanzer Wohnungsmarkt Wohnungen zu günstigen Mieten zu finden. Aber auch im Hochpreis- und Luxussegment wird der Bau von Wohnungen erforderlich sein, weil Nachfrager dieser Wohnungen aufgrund des mangelnden Angebots auf das mittlere Preissegment ausweichen und das beschränkte Angebot in diesem Segment weiter verknappen. Insofern ist bei der weiteren Wohnungsentwicklung die Entwicklung aller Preissegmente zu berücksichtigen. Empirica empfiehlt aus diesem Grund, die Preissegmente [der Neubauten] wie folgt zu verteilen:
1/6 (879 WE) im unteren Preissegment
3/6 (2638 WE) im mittleren Preissegment
2/6 (1758 WE) im oberen Preissegment.

Die Therapie

Damit die Verwaltung jetzt sofort mit dem Erwerb von Grundstücken, der Bauplanung, den Anträgen auf Förderung durch das Land usw. beginnen kann, wollte sie vom Gemeinderat gestern Abend einen Grundsatzbeschluss, genau mit diesen Quoten aus dem Gutachten, das seit einem Jahr vorliegt, zu planen. Sprich – salopp gesagt – doppelt soviel Luxuswohnungen wie Sozialwohnungen.

Doch an genau dieser Stelle gab es zwei Tage zuvor bei den Vorberatungen im zuständigen Ausschuss einen großen Aufschrei, denn Menschen, denen man als Außenstehender nicht mal einen Blutkreislauf zugetraut hätte, entdeckten plötzlich ihr Herz für die niederen Klassen. 1/6 der Neubauten als Wohnraum für die Armen, 2/6 für die Reichen – das kann doch nicht sein? Umgekehrt wird ein Schuh draus!

Oberbürgermeister Uli Burchardt ist taktisch gewieft: Er hat (so erzählte er dem Gemeinderat) am Vorabend mit dem Mieterbundvorsitzenden und SPD-Urgestein Herbert Weber telefoniert, der ihm volle Unterstützung für seinen Plan signalisierte, und er hielt noch ein paar andere Fachleute parat. Außerdem präsentierte er einen Kompromissvorschlag: Man solle jetzt doch erst mal diese Quotierung der Neubauten (ein Sechstel arm, zwei Sechstel reich, drei Sechstel mittel) beschließen mit dem Zusatz, dass man sich im Laufe des Jahres 2014 nochmals mit der Gutachterin treffen werde, um sie zu fragen, ob man nicht doch etwas mehr für jene armen Leute tun könne, bei denen bei 8,50 Kaltmiete oder gar einem Wohnberechtigungsschein das Ende der Möglichkeiten erreicht sei. Kurzum: Beschließt mal diese Vorlage, sonst passiert monatelang nichts, weil wir ohne diese sozialen Vorgaben Grundstückspreise, Baupreise, Landeszuschüsse usw. nicht kalkulieren können und daher alle Planungen einstellen müssen. (Zwischenruf Holger Reile von der Linken Liste: „Genug der Daumenschrauben!“).

Die Debatte krankte an einem: Sollten die Gemeinderäte zustimmen und dem Zusatz glauben, dass man im Lauf des Jahres 2014 nochmals mit den Gutachtern reden und die soziale Verteilung ändern kann, oder wäre die heutige die endgültige Entscheidung für die nächsten 15 Jahre? Die Verwaltung nebelte rum: nachdem die (wie immer) äußerst kompetente und konzise Marion Klose, Leiterin des Amtes für Stadtplanung und Umwelt, klargestellt hatte, diese Entscheidung über die Quote sei mehr oder weniger endgültig, während der OB den Gemeinderätinnen und -räten just das Gegenteil versprochen hatte, gab es eine lange Debatte, in der eines klar wurde: Es ist nichts klar. Insbesondere der Oberbürgermeister spielte geschickt Vernunft (Daten aus dem Gutachten) gegen das soziale Bauchgefühl aus.

Man muss den Gemeinderätinnen ins Stammbuch schreiben, dass sie das empirica-Gutachten offensichtlich nicht aufmerksam genug gelesen haben, um diese soziale Schieflage zu erkennen, dort stehen diese Verteilungsquoten seit einem Jahr drin. Die Frage des sozialen Gewissens wurde letztlich zu einer des Bauchgefühls erklärt. FWG-Rat Weisschedel behauptete: „Wäre ich als Arzt meinem Bauchgefühl gefolgt, wären viele schon unter der Erde.“

Am Ende entschied der Rat sich mehrheitlich dafür, das Programm so zu verabschieden und noch im Jahre 2014 zu debattieren, ob es nicht angesagt sei, im unteren Segment mehr Wohnungen zu errichten. Dass er dabei nach dieser Entscheidung nichts mehr zu sagen haben wird, ist ihm scheint’s entgangen.

Seltsamer Weise scheint nach Ansicht des Gutachtens die Wohnungsnot daraus zu resultieren, dass Menschen, die aus Mangel an teuren Wohnungen in Mittelklasse-Wohnungen wohnen müssen, nichts Teureres finden, in das sie bald umziehen können. Vielleicht wäre die Lösung des Problems ja auch, dass wir alle einfach am nächsten Samstag im Lotto gewinnen?

O. Pugliese

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