Monats-Archive: November 2014

Auch VVN-BdA fordert Winterabschiebestopp für alle Roma aus den Balkanländern

Sie hassen uns

Auch die Landesregierung blendet Menschenrechtsverletzungen in Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina systematisch aus, um Flüchtlinge aus diesen Staaten leichter abschieben zu können. Protestpostkarte der Initiative “alle-bleiben”.

Nach dem Aktionsbündnis Abschiebestopp Konstanz hat nun auch die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA), Kreisvereinigung Konstanz, die Flüchtlingspolitik der grün-roten Landesregierung scharf kritisiert. Die antifaschistische Organisation zeigt sich in einer Mitteilung besonders empört darüber, dass Grün-Rot “nicht wenigstens die humanitären Standards ihrer Vorgängerregierung” unter CDU-Ministerpräsidenten Mappus einhalte “und wie diese, aus christlicher Verantwortung heraus, über den Winter einen Abschiebestopp für Roma verfügt”.

Die AntifaschistInnen greifen namentlich den Konstanzer Landtagsabgeordnete Siegfried Lehmann von den Grünen an. Er wird mit Äußerungen aus dem Jahr 2012 konfrontiert, als er an die VVN-BdA Konstanz unter anderem schrieb, im “Bewusstsein des Völkermordes an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart” sei sich die Landesregierung “der besonderen historischen Verantwortung gerade auch gegenüber den Angehörigen dieser nationalen Minderheit bewusst.” Es bleibe deshalb das “Ziel der Landesregierung – gerade mit Blick auf die humanitären Folgen einer Abschiebung – möglichst vielen Menschen zu einem dauerhaften Aufenthalt zu verhelfen.”

Diese historische Verantwortung, so Doris Künzel von der VVN-BdA, reiche heute noch nicht einmal für einen Winterabschiebestopp für die Roma. “Frauen und Kinder, Alte und Kranke aus den Balkanländern werden rigoros und pünktlich, monatlich vom Flughafen Baden-Airpark in Baden-Baden in den eiskalten Winter, in Elend und Diskriminierung abgeschoben.”

Auch die Konstanzer VVN-BdA hat deshalb nun Protestbriefe an Siegfried Lehmann und Klaus-Peter Storz (SPD), die Landtagsabgeordneten aus dem Kreis Konstanz, sowie an den integrationspolitischen Sprecher der grünen Fraktion, Daniel Lede Abal, geschrieben, in denen die Stuttgarter Regierung aufgefordert wird, umgehend einen Abschiebestopp über den Winter, bis mindestens 31.März, zu erlassen um den Roma wenigstens den kalten Winter auf dem Balkan zu ersparen.

Wir veröffentlichen den Brief an den Abgeordneten Lehmann und schließen uns der Bitte der VVN-BdA an die LeserInnen an, sich bei den Verantwortlichen ebenfalls für einen Winterabschiebstopp einzusetzen (Kontaktdaten siehe unten). Der nächste Abschiebeflug soll am 9. Dezember starten. Bitte helft mit, diesen zu verhindern!

Winterabschiebestopp in Baden-Württemberg für alle Roma aus den Balkanländern

Sehr geehrter Herr Lehmann,

täglich erreichen auch uns verzweifelte Anrufe von Roma-Familien, die befürchten, in den nächsten Tagen und Wochen in Kälte und Elend in die Balkanländer abgeschoben zu werden. Eine davon ist die Familie von Herrn Muhamed D., der mit seiner Frau und seinen 4 kleinen Kindern im Alter von 10, 6, 3, und 1 Jahr, aus Stuttgart jetzt nach Mazedonien abgeschoben werden soll.

Wir hatten in den vergangenen Jahren auch Sie und die VertreterInnen Ihrer Fraktion mehrfach zur Situation der Roma angeschrieben, auf die Diskriminierung und Verfolgung der Roma in den Balkanländern hingewiesen und ein Bleiberecht in Deutschland für sie gefordert.

Sie selbst haben sich immer wieder für Humanität gegenüber den Roma, als den Nachfahren einer der größten Opfergruppen des Holocaust, ausgesprochen:

In Ihrem Schreiben vom 08.02.2012 an uns heißt es, „Im Bewusstsein des Völkermordes an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart ist sich die Landesregierung der besonderen historischen Verantwortung gerade auch gegenüber den Angehörigen dieser nationalen Minderheit bewusst.“ …. „ bleibt es das Ziel der Landesregierung – gerade mit Blick auf die humanitären Folgen einer Abschiebung – möglichst vielen Menschen zu einem dauerhaften Aufenthalt zu verhelfen.“

Angesichts der unrühmlichen Rolle, die Herr Kretschmann und die Grünen bei der bundesweitern Asylrechtsverschärfung auf Kosten der Roma, dieses Jahr gespielt haben,

könnten wir heute wenigsten diese einfache menschliche Geste, die Romafamilien nicht in den kalten Winter auf den Balkan abzuschieben, von Ihnen erwarten.

Da der nächste Abschiebeflug am 09.Dezember vom Baden-Airpark starten soll, möchten wir Sie dringend bitten, sich umgehend dafür einzusetzen, dass das Land Baden-Württemberg über den Winter einen offiziellen Abschiebestopp für Roma aus den Balkanländern verhängt. Das Ausländerrecht lässt hier einen Ermessenspielraum von 6 Monaten zu, den zu nutzen wir von Herrn Kretschmann, einem grünen Ministerpräsidenten und einer grün/roten Landesregierung, einfordern.

Ein abschiebefreier “Weihnachtsfrieden” über die Feiertage, wie er von der Pressestelle des RP Karlsruhe für dieses Jahr in Aussicht gestellt wurde, kommt wohl eher unserem Seelenfrieden zu Gute als den Roma. Diese würden über Weihnachten angstvoll in ihren Unterkünften sitzen, mit der Aussicht, im Januar ins kalte Elend abgeschoben zu werden.

Wir halten es für ein schlichtes Gebot der Humanität, dass schutzbedürftige Menschen, insbesondere Kinder, nicht in Kälte, Eis und Elend abgeschoben werden. Wir erwarten von der Landesregierung deshalb, dass den Betroffenen jetzt die Angst vor einer zeitnahen Abschiebung mit einem offiziellen Winterabschiebestopp genommen wird.

„Humanität im Vordergrund“, heißt es auf Ihrer Homepage der Landtagsfraktion. Wir bitten Sie, handeln Sie danach!

Mit freundlichen Grüßen
Doris Künzel
VVN-BdA Kreisvereinigung Konstanz

Hans-Peter Storz
Ekkehardstraße 78, 78224 Singen
Tel.: 07731/747168
Fax: 07731/747170
E-Mail: info@hans-peter-storz.de
Siegfried Lehmann
Rheingasse 8, 78462 Konstanz
Tel.: 07531/2842620
Fax: 07531/2842621
E-Mail: charlotte-biskup@web.de

TTIP: CDA Konstanz mit Bauchschmerzen – aber dennoch dafür

CDA-Bäumler

CDA-Landesvorsitzender Christian Bäumler warb in Konstanz für TTIP (Bild: CDU-BW).

Nicht nur bei der SPD Konstanz ist man voller Hoffnung, dass TTIP eine florierende Wirtschaft bringt, auch bei der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA) Konstanz, einer Vereinigung innerhalb der CDU, ist man optimistisch, dass das Freihandelsabkommen insgesamt Verbesserungen bringt. Vor 30 ZuhörerInnen legte der CDA-Landesvorsitzende Christian Bäumler am Mittwoch im Konstanzer Hotel Barbarossa seine Sichtweise dar. Überzeugend als TTIP-Befürworter aufgetreten ist er dennoch nicht …

Grob könnte man die Haltung von Teilen der CDU-Basis so zusammenfassen, dass man Dinge, die TTIP mit sich bringt, insgesamt auch kritisch sieht. Auch sehr wohl kritischer, als dass es Konstanzer SPD-Politiker Peter Friedrich zwei Wochen zuvor bei der SPD-Veranstaltung formulierte. Dennoch entstand grob der Eindruck, dass der Investorenschutz in der beabsichtigten Form eine Aufweichung der Umweltstandards, einen Angriff auf den öffentlichen Sektor oder öffentliche Kulturförderung nicht gutheißt. Der Tenor schien zu lauten: Mutti hat die Marschroute bereits festgelegt, deswegen laufen wir mit.

Bäumler vergleicht TTIP mit innereuropäischem Freihandel

Positiv bewertet Bäumler das transatlantische Handelsabkommen vor allem deswegen, weil es sich auch bei der Europäischen Union um ein Projekt handele, das als Freihandelszone begonnen habe. Im gleichen Atemzug bestätigte er, dass man das aus „südeuropäischer Sicht anders sehen“ könne. Dort hätte man so allerdings langfristig die Möglichkeit, sich anzupassen. Und in diesem Stile ging es weiter: Die Union verhandle TTIP vor allem wegen bevorstehenden Freihandelsabkommen in Asien und zwischen Asien und den Vereinigten Staaten. Deutschland profitiere vom Freihandel und langfristig hätten andere Länder die Möglichkeit, sich dem anzupassen.

KritikerInnen von Links erwähnte er fast in einem Atemzug mit der AfD und warf ihnen Antiamerikanismus in der Argumentation vor. Umgekehrt ging Bäumler jedoch kaum auf den Vorwurf ein, dass TTIP wirtschaftsrassistisch sei, da Firmen aus Entwicklungsländern es schwerer hätten, Waren auf dem europäischen oder amerikanischen Markt abzusetzen, wenn diese untereinander leichteren Zugang zu ihren Produkten gewähren würden. Auf erneutes Nachfragen am Schluss antwortete Bäumler, dass man in die Verhandlungen Länder der Dritten Welt mit einbeziehen könne, deren Standards ähnlich sind wie die in Europa und den USA.

„Alles wird gut“

Dass die Sichtweise der CDA eher von Wunschdenken als von Zielsetzungen einer egalitären, emanzipierten Gesellschaft geprägt ist, bestätigte sind in Bäumlers Beitrag immer wieder aufs Neue. Zwar sagt er offen in mehreren Zusammenhängen, dass ein Freihandelsabkommen für den „Schwächeren kritisch ist“, jedoch sieht man sich in der CDA wohl nicht in jener Position.

Alle Befürchtungen der KritikerInnen seien ohnehin nicht zutreffend: Die öffentliche Daseinsvorsorge wolle man von TTIP unberührt lassen, Theater und Körperschaften im öffentlichen Dienst sollten selber entscheiden können, ob sie kommunal bleiben wollten oder nicht und in die nationale Gesetzgebung solle TTIP nicht eingreifen. Die ILO-Kernarbeitsnormen möchte auch Christian Bäumler nicht negativ in Europa berührt sehen. Der redegewandte Bäumler gab sich sympathisch, was ihm häufig half, kritische Zwischenfragen zu umschiffen. Immer wieder versicherte er, dass TTIP schlussendlich vom EU-Parlament verabschiedet werden müsse – und wenn nicht, dann von allen anderen 28 nationalen Parlamenten der EU. Ohnehin habe die Bundesregierung den Investorenschutz bisher bewusst aus den Verhandlungen herausgenommen.

CDA und Wirklichkeit

Die Frage, ob er glaube, dass all diese Versprechungen, die er in dieser Runde in Konstanz mache, dann auch so durchkommen würden, beantwortete Bäumler mit den Worten: „Ich bin lange genug in Verhandlungen mit dabei gewesen, da muss man bis zum Schluss darauf achten, dass Lobbyisten da nicht noch irgendwas reinmachen. Das ist für mich keine Frage, aber Politik ist immer gefährlich.“ Bundeswirtschaftsminister Gabriel versuchte unterdessen bereits tags darauf im fernen Berlin Tatsachen zu schaffen. In der ARD hieß es, Gabriel gehe „davon aus, dass er bei TTIP in Verhandlungen mit der EU-Kommission noch punktuelle Verbesserungen durchsetzen kann. Ganz werde man Investorenschutz und Schiedsgerichte aber nicht mehr herausbekommen, so der Wirtschaftsminister.“

So bleibt nach den Beschwichtigungen des CDA die Frage, ob es am Ende Sigmar Gabriel oder die CDA ist, welcher mehr Einfluss auf die Verhandlungspositionen der Europäischen Kommission hat. Wir sind gespannt.

Ryk Fechner

Stuttgart 21: Gericht stellt Wasserwerfer-Prozess ein

Wasserwerfer Angriff im Schlossgarten

30. September 2010: Massiver Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten gegen Parkschützer.

Das Landgericht Stuttgart hat der an Skandalen nicht armen Geschichte um das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 heute ein weiteres, skandalöses Kapitel hinzugefügt. Es stellte am Nachmittag den Prozess gegen zwei Polizeiführer ein, die wegen des blutigen Wasserwerfer-Einsatzes am “Schwarzen Donnerstag” im September 2010 vor Gericht standen. Ihnen war fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen worden, weil bei dem Polizeieinsatz mehrere Personen während der Proteste gegen Baumfällungen im Schlossgarten schwer verletzt worden waren. Ein Rentner, der im Prozess auch als Nebekläger auftrat, erblindete dauerhaft. Richterliche Begründung der Verfahrenseinstellung: Es sei in dem seit Juni andauernden Verfahren nur eine “geringe Schuld” der Angeklagten zu erkennen gewesen.

Nach der Bekanntgabe der Entscheidung kam es im vollbesetzten Saal zu Protesten, die Vorsitzende Richterin ließ ihn daraufhin räumen. Der Sprecher der “Initiative Parkschützer”, Matthias von Herrmann, sprach von einem “Justizskandal”. Es könne nicht sein, dass der Prozess “im entscheidenden Moment abgebrochen wird”. Pikanterweise wäre der nächste Zeuge der Führungsassistent des damaligen Polizeipräsidenten Stumpf gewesen, der den Einsatzbefehl seines Vorgesetzten an die Polizeiführer im Schlossgarten weitergab.

Der LINKE-Vorsitzende Bernd Riexinger hat die Verfahrenseinstellung scharf kritisiert. Seine Erklärung im Wortlaut: “Am 30. September 2010 begann die Polizei mit der Räumung des Schlossgartens in Stuttgart. Mit beispielloser Härte und Brutalität ging sie gegen tausende Menschen vor, die sich dort in friedlichem Protest und zivilem Ungehorsam versammelt hatten, darunter viele Schülerinnen und Schüler. Gewalt, Schlagstöcke und Wasserwerfer – und am Ende mehrere hundert Verletzte. Das Bild eines älteren Demonstranten, der von Wasserwerfern im Gesicht getroffen wurde, in der Folge nahezu erblindet ist, wurde zum Bild des Widerstandes, zum Sinnbild eines unverhältnismäßig harten Polizeieinsatzes – der mit der heutigen Einstellung des Verfahrens endgültig ungesühnt bleibt.

Das Urteil macht fassungslos und wütend, weil das Niederknüppeln von Menschen wegen ihres Protestes gegen ein sinnloses Prestige-Bauwerk auf diese Art scheinbar nachträgliche Legitimität erhält.

Ein Prozess hätte auch bedeutet, dass der grüne Ministerpräsident Kretschmann sich hätte erklären müssen. Dass er darum herum kommt, Position zu beziehen, sich auch noch erleichtert zeigt, gibt der Einstellung des Verfahrens einen weiteren faden Beigeschmack.

Es ist ein schwarzer Tag für Stuttgart und diejenigen, die an den Protesten beteiligt waren, dabei verletzt wurden. Es ist ein schwarzer Tag für bürgerschaftliches Engagement gegen milliardenschwere Steuerverschwendung wie das Stuttgart-21-Desaster.”

Redaktion

Rojava: Kein Staat, sondern ein autonomes Projekt

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Melike Yasar und Hazina Osi (von links) referierten am Donnerstag in Konstanz zur Lage in Rojava und den Perspektiven des Modells der Demokratischen Autonomie (Foto: Nicolas Kienzler).

Man verteidigt zur Zeit nicht „nur“ Leib und Leben in Kobanê. Man verteidigt das Modell der demokratischen Autonomie. Ein Konzept, welches „nicht nur für den Nahen Osten, sondern auch für SozialistInnen anderswo zum Vorbild geworden ist“, sagt Jürgen Geiger vor etwa 50 Gästen im Wolkensteinsaal für DIE LINKE.Konstanz. Die Partei hatte Hazina Osi von der kurdischen PYD und Melike Yasar von der Internationalen Vertretung der kurdischen Frauenbewegung am Donnerstag zur Veranstaltung nach Konstanz eingeladen.

Kurdistan erlebte seit 1923 einige Teilungen. Hazina Osi, deren Ausführungen von Melike Yasar aus dem Kurdischen ins Deutsche übersetzt wurden, legte besonderen Wert auf diesen Teil der Geschichte. Da Kurdistan sich über Teile der Türkei, Syriens, des Iraks und des Irans erstreckt, hatte es die kurdische Bevölkerung vor allem in Hinblick auf die rechtliche Anerkennung und Selbstorganisation schwer. Nicht einmal Ausweispapiere gab es für sie. Vor allem im türkischen Teil wurde mit Repression gearbeitet: Kurdische Kultur und Sprache waren verboten.

Osi, von Anfang an am Aufbau des Projekts in Rojava beteiligt, macht deutlich: „Die Türkei und die arabischen Länder sind unzufrieden damit, dass wir jetzt ein System frei von Repression, selbstorganisiert, aufbauen.“ Seit Monaten seien „Leute von sieben bis siebzig Jahren“ daran beteiligt, „Kobanê zu verteidigen.“ Wie prekär die humanitäre Lage der Menschen ist, macht Hazina Osi auf Nachfrage deutlich: „Vor allem die Kinderernährung ist schwierig. Teilweise gibt es zehn Tage lang kein Brot.“ Die Menschen in Kobanê lebten auf der Straße oder in Schulgebäuden, die noch nicht zerstört worden sind. Dass die Türkei IS-Kämpfer über die Grenze lasse, während Nachschubwege für humanitäre Hilfe nicht geschaffen werden, erzürnt die Aktivistin besonders.

„Wir sind kein Volk, das den Krieg liebt“

Dass es PYD und PKK nicht um Krieg geht, unterstreicht Osi außerdem: „Wir sind kein Volk, das den Krieg liebt, aber wir werden uns verteidigen, wenn wir von außen bedroht werden.“ Und verteidigenswert ist es wohl, dass es in Rojava jetzt Wahlen gibt, dass ethnische wie religiöse Minderheiten in Entscheidungsprozesse eingebunden sind, vor allem auch, dass die Bewegung von Feministinnen getragen wird.

PKK will Unabhängigkeit und keinen Staat

Melike Yasar stellte heraus, dass es den Willen nach einem unabhängigen Kurdistan schon seit Jahrzehnten gab. So ist „Rojava das Resultat des 40 Jahre dauernden Kampfes der PKK. Heute will die PKK zwar noch ein unabhängiges Kurdistan aber keinen eigenen Staat mehr.“ Die kurdische Bewegung habe seit 1999 ihre Strategie grundlegend geändert. „Das System des demokratischen Konförderalismus trat in den Vordergrund. Viele haben damals nicht verstanden, weswegen wir keinen Staat haben wollten. Abdullah (Öcalan, der PKK-Vorsitzende, d.R.) hat im Gefängnis mit seinen Notizen beschrieben, wie ein Kurdistan aussehen sollte, das die Fehler anderer Staaten nicht wiederholen sollte. Ein Staat ist hierarchisch. Ein Staat fängt von oben nach unten an. Wenn man sich das wie eine Pyramide vorstellt, dann hätten wir diese einfach umdrehen können, dann stünde oben die Bevölkerung und unten der Staat, aber trotzdem wäre es wieder ein System, das von oben nach unten aufgebaut ist.“

Innerhalb der kurdischen Bewegung habe es so einen langen Reflektionsprozess gegeben, in dem man Kritik und Selbstkritik geübt habe. Das Resultat war, dass man sich gezwungen sah, die Frauenpolitik ins Zentrum der neuen Bewegung zu stellen, um den äußerst patriarchalen Verhältnissen der Region etwas entgegenzusetzen. „Die kurdischen Frauen haben einen sehr harten Diskurs um den Begriff der „Ehre“ geführt. Ich bin niemandes Ehre. Meine Ehre ist meine Freiheit“, verdeutlicht Yasar.

Um zu verhindern, dass neue Hierarchien entstehen, gingen FunktionärInnen anschließend in die Zivilbevölkerung, um in verschiedensten Lebensbereichen mit ihnen zu diskutieren. Bewusst habe sich die PKK 1999 entschieden, sieben Jahre lang nicht zu kämpfen.

Kritik an USA um IS-Aufbau

Scharf brandmarkt Yasar die Außenpolitik der westlichen Länder, insbesondere der USA, die den IS mitaufgebaut hätte: „Wieso? Der IS wurde aufgebaut, um den nahen Osten in ihrem Sinne neu strukturieren zu können.“ Das sei ganz im Sinne imperialistischer Mentalität: „Das Prinzip war, die eine Diktatur durch eine andere zu ersetzen. Aber die kurdische Bevölkerung wollte etwas ganz anderes.“

Wie kann Hilfe konkret aussehen?

Vor allem wünscht sich Melike Yasar Solidarität von demokratischen, feministischen Organisationen, „die meinen, dass eine andere Welt möglich ist.“ „Von Europa aus kann man Delegationen nach Rojava schicken, damit sich diese informieren können, was die Bedürfnisse der Bevölkerung, der Frauen, der Verteidigungseinheiten sind.“ In der Schweiz sei man gerade dabei, zwischen einigen Kantonen der Schweiz und Kantonen Kurdistans eine Partnerschaft aufzubauen. Zwar ist man sich dessen bewusst, dass man mit hierarchischen Staaten verhandelt, dennoch seien diese Gespräche strategisch unheimlich wichtig. Ganz handfeste Solidarität demonstrierten an diesem Abend die BesucherInnen: Bei einer Spendensammlung für das “Newroz Camp”, ein Flüchtlingslager in Rojava, in dem vor allem JezidInnen Zuflucht finden, kamen mehr als 600 Euro zusammen.

PKK-Verbot aufheben

Jürgen Geiger forderte unterdessen erneut eine Aufhebung des PKK-Verbots, die eine Hauptlast im Kampf gegen den IS trage: „Es wird auch momentan eine notwendige Solidaritätsarbeit mit der Arbeiterpartei Kurdistans kriminalisiert und verfolgt. Im Oktober sprach die linke Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke auf einer Kundgebung zum Thema Kurdistan und zeigte zum Schluss eine Flagge mit dem Symbol der PKK. Sie ist dort noch vor Ort festgenommen worden und vor kurzem wurde ihre Immunität als Bundestagsabgeordnete aufgehoben und jetzt wird sie strafrechtlich verfolgt. Warum sage ich das? Die Bundesregierung behält sich vor, kurdische Solidaritätsarbeit nach wie vor zu kriminalisieren. Und ich bin der Meinung, dass wir als Menschen insgesamt einen sehr großen Druck aufbauen können, dass die Bundesregierung nach mehr als 20 Jahren dieses PKK-Verbot endlich beseitigt.“ Seine Forderung zum Schluss: „Das PKK-Verbot muss weg.“

Ryk Fechner

Aktionsbündnis Abschiebestopp und Freundeskreis Asyl fordern Winterabschiebestopp

Sammelabschiebung vom Baden-Airpark

Sammelabschiebung vom Flughafen Karlsruhe/Baden-Baden.

In einem Offenen Brief fordern das Konstanzer “Aktionsbündnis Abschiebestopp” und der Radolfzeller “Freundeskreis Asyl” von der baden-württembergische Landesregierung, Roma-Flüchtlinge zumindest während des Winters nicht in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Eine Forderung, die nach der Einstufung der Länder, aus der die meisten dieser Flüchtlinge stammen, als “sichere Herkunftsstaaten”, aktueller denn je ist. Erleichtert es diese Entscheidung – der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat sie durch seine Zustimmung im Bundesrat überhaupt erst möglich gemacht – doch den staatlichen Behörden seither, Flüchtlinge aus diesen Ländern aus dem Land zu werfen. So hat es nach Angaben des Regierungspräsidiums Karlsruhe zuletzt am 18. November bundesweit 54 Zwangsabschiebungen nach Serbien und Mazedonien gegeben, davon 16 aus Baden-Württemberg.

Das Aktionsbündnis und der Freundeskreis erinnern den Ministerpräsidenten, seinen Innenminister Gall und die weiteren Regierungsmitglieder noch einmal daran, dass Roma in ihren Heimatländern massiver Diskriminierung ausgesetzt sind. Häufig fehlten menschenwürdige Unterkünfte, Arbeit und der Zugang zu sozialen Hilfen und medizinischer Versorgung. Bringe man die Menschen auch noch im üblicherweise harten Winter in diesen Regionen in eine solche Situation, erschwere dies ihre Lage noch zusätzlich. Entsprechend groß ist die Angst der Betroffenen. Doris Künzel, die sich seit Jahren in der Flüchtlingsarbeit in der Region engagiert, berichtet von verzweifelten Anrufen von Roma-Familien, die befürchten müssen, in den nächsten Tagen und Wochen in Kälte und Elend in die Balkanländer abgeschoben zu werden.

Flüchtlinge aus dem Landkreis waren nach Erkenntnissen des Aktionsbündnisses Abschiebestopp von den Sammelabschiebungen im November zwar nicht betroffen. Das könnte sich aber schon in wenigen Wochen ändern. Denn der nächste Termin, an dem Flüchtlinge von der Polizei abgeholt und per Flugzeug aus dem Land geschafft werden sollen, ist laut Karlsruher Regierungspräsidium für den 9. Dezember geplant. Dagegen soll es, so das Aktonsbündnis, Proteste und Aktionen von Flüchtlingsgruppen geben. Die LINKE und die Linke Liste werden sich daran beteiligen.

Redaktion

WORTLAUT | Offener Brief: Winterabschiebestopp ohne Sonderregelungen in Baden-Württemberg

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann, Sehr geehrter Herr Innenminister Gall, Sehr geehrte Mitglieder der Landesregierung Baden-Württemberg,

nach der Anerkennung der Balkanländer Bosnien-Herzegowina, Serbien und Mazedonien als so genannte „sichere Herkunftsstaaten“ stehen viele Roma – häufig Familien mit Kindern im schulpflichtigen Alter, die schon seit Jahren in Deutschland zur Schule gehen – konkret vor der Abschiebung.

Wie Ihnen sicherlich bekannt ist, sind Roma vielfältigen Diskriminierungen in ihren Heimatländern ausgesetzt. In den meisten Fällen haben sie weder eine menschenwürdige Unterkunft, noch die Möglichkeit zu arbeiten und sich und ihre Familien selbst zu versorgen. Meist wird ihnen auch der Zugang zu sozialer Hilfe und medizinischer Versorgung unmöglich gemacht. Der auf dem Balkan bekanntermassen besonders harte Winter steht vor der Tür und erschwert die Situation der in ihre Herkunftsländer abgeschobenen Flüchtlinge zusätzlich. Insbesondere die häufig drohende Obdachlosigkeit im Falle einer Abschiebung macht eine Abschiebung in den Wintermonaten zu einem besonderen humanitären Härtefall.

Wir fordern daher, dass Baden-Württemberg im Winter keine Flüchtlinge in die Balkanstaaten abschiebt. Wir hoffen, dass die grün-rote Landesregierung ihren humanitären Verpflichtungen hier Vorrang gewährt vor einer menschenrechtlich fragwürdigen Abschiebepolitik.

Eine solche Regelung muss weit über die Regelung des letzten Jahres hinausgehen. Es darf insbesondere nicht erneut Sonderregelungen für kinderlose Paare und Einzelpersonen geben, sowie für Asylfolgeantragsteller oder Personen, welche nach einem gewissen Stichtag eingereist sind. All diese Sonderregeln hatte Baden-Württemberg letztes Jahr als einziges Bundesland aufgestellt und eine ausreichende Begründung für diese Ausnahmen nicht liefern können.

Ebenso sollte der Winterabschiebestopp wieder bis Ende, statt Anfang März gewährt werden, da insbesondere der März auf dem Westbalkan niedrige Temperaturen aufweist. Diese Regelung war unter der CDU-geführten Vorgängerregierung durchaus üblich und es ist unverständlich, warum ausgerechnet eine grün-rote Landesregierung hier humanitäre Verschlechterungen einführt.

Wir fordern Sie auf, den Schutz vor Abschiebungen dieses Jahr umfassend und bedingungslos zu gewähren. Wir hoffen, dass die grün-rote Landesregierung zu einem humanitären Kurs in der Flüchtlingspolitik zurückfindet und keine Mitglieder der meistdiskriminierten Volksgruppe Europas und einer der größten Opfergruppen des nationalsozialistischen Terrors im Winter in die fast sichere Obdachlosigkeit abschiebt.

Aktionsbündnis Abschiebestopp Konstanz
Freundeskreis Asyl Radolfzell

„Was die Menschen in Kobanê verteidigen“ – Veranstaltung am 20.11. in Konstanz

Kobane: Kämpferinnen gegen IS

An der Verteidigung von Kobanê gegen den IS beteiligen sich viele Frauen (Foto: The Rojava Report).

Seit Wochen steht die Region Rojava in Nordsyrien wegen der Angriffe der dschihadistischen Terrormiliz IS auf die Stadt Kobanê im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Neben ihrer Heimat verteidigen die Menschen dort ein Modell des Zusammenlebens, das allen Ethnien, Religionen und Geschlechtern ermöglichen soll, gleichberechtigt und in gegenseitigem Respekt zusammen ein selbstbestimmtes Leben, ohne Ausbeutung und Unterdrückung, zu gestalten. In Rojava wird dazu auch ein Wirtschaftsmodell entwickelt, das mit der kapitalistischen Profitproduktion bricht und sich stattdessen an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.

Der Kreisverband der Linken hat zwei kurdischen Aktivistinnen eingeladen, die über die aktuelle Lage in der Region und das Modell der Demokratischen Autonomie berichten werden.

Hazina Osi ist Mitglied der kurdischen „Partei der Demokratischen Union“ (PYD) in Syrien und war von Beginn an am Aufbau des Projekts Rojava beteiligt.
Melike Yasar gehört der Internationalen Vertretung der kurdischen Frauenbewegung an.


Informationsveranstaltung: Was die Menschen in Kobanê verteidigen.
Die Revolution von Rojava und das Modell der Demokratischen Autonomie.

Donnerstag, 20. November, 19 Uhr, Konstanz, Kulturzentrum am Münster


Veranstalter: DIE LINKE. Konstanz, DKP Hochrhein-Bodensee

Immobilien-Lobby ganz entspannt: “Unsere Mieter sind unser Eigenkapital…”

Worte können manchmal wirklich verräterisch sein. Ein aktuelles Beispiel dafür liefert ein Bericht im “Südkurier” über die alljährliche Hauptversammlung von “Haus und Grund”, des örtlichen Lobbyverbands der Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer. Die laut Heimatblatt genau 62 (offenbar abgezählten) Mitglieder machten sich dort so ihre Gedanken über drohende “Regulierungen des Wohnungsmarkts” durch den Bund (gemeint ist die “Mietpreisbremse” der GroKo) und der Stadt (das “Handlungsprogramm Wohnen”, das der Konstanzer Gemeinderat im Frühjahr beschlossen hat). Doch ihr Verwaltungsratsvorsitzender Dieter Pilz gab Entwarnung und riet den Immobilienbesitzern – wenn ihn denn die Lokalzeitung richtig zitiert hat – mit folgendem bemerkenswerten Satz, gelassen zu bleiben: “Unsere Mieter sind unser Eigenkapital und das langfristige Vertrauensverhältnis, das wir pflegen, wird die Neuregelungen unbeschadet überstehen”. Was der Grundeigentümer-Funktionär seiner Klientel damit sagen will: Solange die Leute händeringend nach einem Dach über dem Kopf suchen, besteht keine Gefahr für unsere Geschäftemacherei. Ohne kommt man bekanntlich nicht aus, und deshalb gehört diese fleischgewordene Kapitalart mit Haut und Haaren uns. Denen wird auch langfristig gar nichts anderes übrig bleiben, als unsere überhöhten Mieten zu schlucken. Fürwahr, ein schönes Zwangs-, Pardon, Vertrauensverhältnis, das die Immobilienbesitzer hier pflegen können.

Zumindest was die anstehenden Neuregelungen auf Bundesebene betrifft, kann man Pilz nur Recht geben. Denn die sogenannte Mietpreisbremse ist aus mehreren Gründen ein Etikettenschwindel, der zukünftige Mieterhöhungen keinesfalls verhindern wird. So kann der Vermieter laut Gesetzentwurf der Bundesregierung beispielsweise bei Vermietung von neu geschaffenem Wohnraum oder umfassend sanierten Wohnungen weiterhin ungebremst verlangen, was der Markt hergibt, und das grenzt in Ballungsgebieten, zu denen auch Konstanz zählt, mittlerweile an Wucher. Damit aber werden die örtlichen Vergleichsmieten und damit der Mietspiegel weiter in die Höhe getrieben, mit fatalen Folgen für den Spielraum bei schon bestehenden Mietverträgen. Doch selbst im besten Fall bieten sich den Vermietern auch bei schon abgeschlossenen Verträgen erhebliche Möglichkeiten. Erhöhungen um bis zu 15 Prozent in vier Jahren sollen erlaubt sein, auch ohne dass der Wohnungswert verbessert wird. Saniert der Vermieter die Wohnung energetisch, kann er darüber hinaus elf Prozent der Modernisierungskosten auf die Miete umlegen, jährlich und zeitlich unbegrenzt. Wo also bei der Bundesregierung Mietpreisbremse draufsteht, ist nichts weiter drin als gesetzlich regulierter Mietwucher. Kein Grund für Immobilieneigentümer, sich graue Haare wachsen zu lassen. Ihre Kapitalquellen werden auch künftig nahezu unbegrenzt sprudeln.

Was beim Handlungsprogramm Wohnen der Stadt Konstanz rauskommt, muss dagegen erst noch abgewartet werden. Immerhin sieht es, wenn auch auf zu niedrigem Niveau, nach Jahren der Untätigkeit den Neubau von Sozialwohnungen vor. Ein Schritt in die richtige Richtung, zweifellos. Dass der bei der Haus-, Wohnungs- und Grundeigentümer-Lobby aber noch keine Nervosität auslöst, zeigt, dass weitere, entschiedenere folgen müssen.

Jürgen Geiger

Eklat um Gregor Gysi im Bundestag: LINKE-Kreisvorstand nimmt Stellung

Die Linke lerntDer Vorstand des Kreisverbands Konstanz der LINKEN hat auf seiner Sitzung am Mittwoch auch über den von den Abgeordneten Annette Groth, Inge Höger und Heike Hänsel verursachten Eklat im Bundestag gesprochen, bei dem der Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi von zwei Journalisten bedrängt und bedroht worden ist. Die genannten Abgeordneten haben reichlich Erfahrung im politischen Geschäft und hätten wissen müssen, dass eine solche Eskalation angesichts des politischen Hintergrunds der beiden Journalisten vorgezeichnet war. Die anwesenden Mitglieder des Kreisvorstands waren sich darin einig, dass das Vorgehen von Groth, Höger und Hänsel völlig inakzeptabel war und kritisieren es scharf.

Wir halten es aber für wenig hilfreich, dass Marco Radojevic, Mitglied im Kreisvorstand und Abgeordneter für die LINKE im Kreistag, in seiner Eigenschaft als Landessprecher des Forums demokratischer Sozialismus Baden-Württemberg den Ausschluß von Groth und Höger aus der Bundestagsfraktion fordert. Das entspricht nicht unserem Verständnis des Umgangs mit innerparteilichen Widersprüchen. DIE LINKE versteht sich als offene, plurale Partei des demokratischen Sozialismus, in der unterschiedliche Strömungen Platz haben und Widersprüche zwischen ihren Mitgliedern solidarisch ausgetragen werden.

Dass es in unserer Partei unterschiedliche Auffassungen zur Bewertung der Politik des Staates Israel gibt, ist bekannt. Die Auseinandersetzung darum kann und muss geführt werden, gerade wegen der furchtbaren deutschen Verbrechen an Menschen jüdischer Herkunft. Dass die Diskussion um solch ein Thema in der Sache hart geführt wird, ist deshalb nicht verwunderlich und vermutlich unvermeidlich. Wir lehnen es aber ab, die vorhandenen Widersprüche mit Rück- oder Ausschlussforderungen auszutragen.

Annette Groth, Inge Höger und Heike Hänsel haben sich für ihr Verhalten schriftlich bei Gregor Gysi und der Bundesfraktion entschuldigt. Gregor Gysi und die Fraktion haben diese Entschuldigung akzeptiert. Das Verhalten der drei Bundestagsabgeordneten war ein großer Fehler. Ebenso falsch ist aber die Annahme, unterschiedliche Meinungen könnten mit der Entfernung von Personen beseitigt werden, die sie vertreten. Wohin das führt, hat die Linke in der Vergangenheit leidvoll erfahren müssen. Unserer Überzeugung nach ist es höchste Zeit, dass in der Partei ein solidarischer inhaltlicher Diskurs über die strittigen Fragen organisiert wird.

Angelika Böhl, Ryk Fechner, Stefan Frommherz, Jürgen Geiger, Sibylle Roeth, Anke Schwede

“Globalisierung regulieren oder entfesseln?” Handelsabkommen TTIP im SPD-Crashtest

SPD-Veranstaltung zu TTIP

Diskutierten kontrovers über TTIP & Co: Simon Pschorr vom Regionalen Bündnis gegen TTIP und der SPD-Landtagsabgeordnete Peter Friedrich (Fotos: Nicolas Kienzler).

Pessimismus sieht anders aus: Dem Minister für Bundesrat, Europa und Internationale Angelegenheiten in Baden-Württemberg, Peter Friedrich (SPD), scheint viel daran gelegen, das Freihandelsabkommen TTIP auf eine „solide“ Basis zu stellen. In der Diskussionsveranstaltung „TTIP: Globalisierung regulieren oder entfesseln?“, die am Dienstag stattfand, warb Friedrich für die Chancen, die das Abkommen beinhalte. Der Eindruck, dass damit alles besser würde, konnte entstehen.

Vor rund 50 Gästen setzte Friedrich vor allem Hoffnungen in den Umstand, dass das Verhandlungsmandat zu TTIP darauf fuße, dass dann in den USA die Normen der internationalen Gewerkschaftsorganisation ILO durchgesetzt würden. Auch für Unternehmen mit kleinen Rechtsabteilungen könnten sich neue Absatzmärkte auftun, schließlich würden Produkte heutzutage viele unterschiedliche US- sowie EU-Tests durchlaufen, die gleichwertig seien. Nach Vorstellungen Friedrichs könnten entsprechende Produktzertifikate dann einfach für Europa vergeben werden, sollte der gleichwertige amerikanische Test bestanden sein. Umgekehrt sei das dann auch für europäische Produkte auf dem amerikanischen Markt möglich.

Von Gleichem und Gleichwertigem

Als Vertreter für das Konstanzer Bündnis gegen TTIP saß Simon Pschorr von der Partei DIE LINKE auf dem Podium. Der Jurastudent hatte trotz gewandten Auftritts so seine liebe Not, dem SPD-Publikumsteil den Unterschied zwischen gleichartigen und gleichen Verfahren begreiflich zu machen. Auch das Beispiel des gleichwertigen Abiturs aus Bayern oder Hessen, bei welchen man zwar die selben Noten erreichen könne, die aber unter anderen Bedingungen zustande gekommen seien, half wenig, um diesen semantischen Unterschied deutlich zu machen. Dass damit in Sicherheitsstandardtests völlig verschiedene Dinge mit demselben Gütesiegel ausgezeichnet werden und dies für eine von beiden Seiten damit einen Wettbewerbsvorteil bedeuten könne, kam bei Peter Friedrich kaum an. Immer wieder wurde er aus dem Publikum und auch von Simon Pschorr darauf hingewiesen, dass in so einem Falle mit zwei verschiedenen Maßen gemessen würde und es sich nicht um Friedrichs „beschworene gemeinsame Regeln“ handle, die mit TTIP einhergingen.

Alles wird super, alles wird wunderbar

Der Abend machte deutlich: Die SPD bereitet ihre Wähler*innenschaft auf Zustimmung zu dem Abkommen vor. Zwar wisse Friedrich, dass das Ergebnis noch nicht feststehe. Gleichzeitig versuchte er allerdings zu suggerieren, dass das Freihandelsabkommen fast ausschließlich dann zustande käme, wenn es soziale und qualitative Verbesserungen für die Menschen mit sich brächte. Ohne dies kein TTIP, so seine Quintessenz.

Eine Einlassung des LINKE-Kreisvorstands Jürgen Geiger aus dem Publikum betraf die Haltung von Bundesinnenminister Sigmar Gabriel, der verlauten ließ, dass es „keine echte Option“ sei, „den Investorenschutz aus (dem kanadisch-europäischen Freihandelsabkommen) CETA komplett herauszunehmen.“ Friedrich, der zuvor immerhin den Investorenschutz in TTIP kritisiert hatte, ließ sich in seiner Haltung nicht beirren. Und sollte doch ein Investorenschutz kommen, setzt er die Hoffnung darauf, dass klagende Konzerne erst den normalen, deutschen Rechtsweg beschreiten, bevor sie eines der internationalen ICSID-Schiedsgerichte anrufen.

Friedrich transportierte viel Wunschdenken an diesem Abend, Bedenken spielte er herunter oder  ignorierte sie. Der Nachfrage, wie denn dann eine Mindestprivatisierungsquote und weitere Einschnitte beim zeitgleich verhandelten Dienstleistungsabkommen TISA zustandekommen konnten, wich Friedrich unter Verweis darauf aus, dass der Begriff „public services“ im Englischen semantisch anders besetzt sei. Mit dieser eindeutigen Haltung dürfte klar sein, dass soziale Einschnitte mit der SPD nicht zu machen sind – bis man in letzter Sekunde doch zustimmt, denn ein kleiner Einschnitt könnte ja bekanntlich noch Schlimmeres verhindern.

Pschorr versucht, auf wichtige Fragen einzugehen

Während der Minister sich am CETA-Anhang für die Angleichung von Technikstandards abarbeitete, versuchte Simon Pschorr, auf soziale Fragen einzugehen. Im Publikum wurde die Frage laut, was TTIP denn für „unsere deutsche Wirtschaft” bringe. Pschorr befand: „TTIP wird zu Schäden in mehreren Volkswirtschaften führen.“ Er mahnte, dass es bei der Frage nach möglichen Gewinnern ohnehin nicht nach dem Motto „lieber wir als andere“ gehen dürfe: „Ich halte diese Sichtweise für ziemlich unethisch.“ Und selbst wenn das Wirtschaftswachstum käme, so würde sich dies selbst bei den Schätzungen TTIP-freundlicher Institute wie der Bertelsmannstiftung nur zu ernüchternden Ergebnissen führen: „2,5 Prozent in zehn Jahren.“

Bioäpfel zum Abschluss

Am Ende drehte sich dann doch wieder alles um die Normen für Unternehmen; ob der Außenspiegel eines Autos einklappbar (in der EU) oder fest (in den USA) sein müsse. Beide führten letztlich dazu, dass ein sicheres Auto dabei herauskäme, was nach einem Crashtest eben platt ist. So platt wie die Vorstellung, dass mit TTIP alles besser würde. Zum Abschluss gab es für die beiden Podiumsteilnehmer noch je einen Korb Bioäpfel. Ob solche Obstkörbe auch künftig mit qualitativ hochwertigen Bioprodukten gefüllt werden können, sollte die SPD dem Handelsabkommen in Bundestag und Bundesrat zustimmen, blieb nach der Veranstaltung allerdings offen.

Ryk Fechner

 

Kapitalistische Mechanismen im deutschen Hochschulsystem und darüber hinaus

HumankapitalIn den vergangenen beiden Wochen konnten Interessierte im Rahmen des Vortragsprogramms „Armut, Ausgrenzung, Leistungszwang“ des AStA der Uni Konstanz erneut zwei spannende Vorträge erleben, die sich mit zentralen Fragen des gesellschaftlichen Lebens beschäftigten: Sandro Philippi, Vorstandsmitglied im Freien Zusammenschluss von Studierendenschaften (fzs) unterzog am 30. Oktober in seinem Referat „Boutiquen oder Räume für Wissenschaft und Bildung?“ die aktuellen Verhältnisse an Hochschulen einer „praxisorientierten Untersuchung”; in der folgenden Woche ging Lothar Galow-Bergmann, ehemals Personalrat des Klinikum Stuttgart und heute Publizist für Jungleworld, konkret und emafrie.de der Frage nach „Was ist eigentlich Kapitalismus?“ und versuchte zu erläutern „warum die Politik die Krise nicht stoppen kann“. Beide Vorträge zeigten eindrucksvoll auf, wie weit marktwirtschaftliche Verwertungsmechanismen in verschiedenste soziale Zusammenhänge vordringen und den öffentlichen Diskurs immer mehr bestimmen.

Wenn alle im selben Boot sitzen: Die kapitalistische Verwertungslogik

Die Grundlage für diesen Prozess sieht Galow-Bergmann in einer entscheidenden Eigenschaft des marktwirtschaftlichen Systems, die häufig missverstanden werde: Die Tatsache, dass im Grunde jeder Mensch, der in einer modernen Industriegesellschaft lebt, Teil des volkswirtschaftlichen „Humankapitals“ ist und mit seinen vielfältigen Interessen, allen voran seiner Existenzsicherung, auf Gedeih und Verderb in das Gesamtsystem eingebunden ist. Es entsteht eine Verflechtung mit dem allgemeinen Wirtschaftskreislauf, durch die zwangsläufig der im klassischen Antikapitalismus konstatierte Gegensatz von Arbeitern und Kapitalbesitzern abgeschwächt wird.

Zwar leiden heute immer mehr Menschen auch in den westlichen Wohlfahrtsstaaten unter den sozialen Missständen, die ein neuerlich entfesselter Kapitalismus mit sich bringt. So weist die Bundesregierung selbst einen Anstieg des Anteils der BürgerInnen in Deutschland, die an oder unter der offiziellen Armutsgrenze leben müssen, von 12,7% im Jahr 2002 auf rund 15% im Jahr 2013 aus. Mehr als eine Million von Ihnen sind Kinder, hinzu kommt eine wachsende Altersarmut. Nichtsdestotrotz, so Galow-Bergmann, haben diejenigen Arbeitnehmer, welche nicht solchermaßen als monetär „wertlos“ vom Arbeitsmarkt aussortiert wurden, aus Sorge um ihren Lebensstandard ein grundlegendes Interesse am reibungslosen Funktionieren des kapitalistischen Systems. Es können kaum noch klare Feindbilder entwickelt werden, in denen „die da oben“ gegen „wir hier unten“ stehen, weil jeder, Arbeitnehmer wie Arbeitgeber, letzten Endes der Logik des abstrakten Verwertungsprinzips unterworfen ist. Dieses Prinzip herrscht weltweit, und seine praktische alltägliche Erscheinungsform ist das Geld.

Dessen Vermehrung, die Profitmaximierung in der wirtschaftlichen Tätigkeit, kann nur gelingen, wenn immer mehr Waren produziert und verkauft werden, während die Rationalisierung immer schneller voranschreitet. Die Notwendigkeit immer währenden Wachstums ist dieser Systemlogik immanent, mit all seinen negativen Folgen: Während einerseits immer mehr Menschen unter psychischen und körperlichen Belastungen am Arbeitsplatz klagen und am liebsten so früh wie möglich „raus aus dem Hamsterrad“ wollen, herrscht andererseits millionenfache Arbeitslosigkeit. Während einerseits vollmundige Versprechen von einem neuen „grünen Wachstum“ gemacht werden, gilt dennoch weiterhin, was ein BMW-Vorstand schon Anfang der 80er Jahre gesagt hat: “Es mag auf der Welt zu viele Autos geben, so gibt es dennoch zu wenig BMW!” Seine Beschäftigten würden ihm sicher auch heute noch zustimmen, eingedenk der Tatsache, dass ein Ende gerade dieses Wachstums ihre Arbeitsplätze in Gefahr bringen würde.

Allerdings steht dieses System laut Galow-Bergmann seit den 70er Jahren einer besonderen Herausforderung gegenüber: Mit einer explosionsartigen Steigerung der Produktivität durch die Entwicklung der Mikroelektronik fällt es dem Kapital weltweit immer schwerer, noch neue Wachstumspotentiale zu entwickeln. Zwar bot sich den nach Investitionsmöglichkeiten suchenden Vermögen in Gestalt der ebenfalls rasant wachsenden Finanzmärkte eine zeitweilig lukrative Anlagemöglichkeit. Diese brachte aber schon bald neue katastrophale Folgewirkungen für die Gesellschaften hervor, wie die in den 80er Jahren einsetzende Privatisierungswelle und der Weltfinanzkrise, die seit dem Jahr 2008 anhält. Inwiefern es gelingen kann, das weltwirtschaftliche System nach diesem Absturz wieder dauerhaft zu stabilisieren, bleibt noch abzuwarten; dass allerdings die selbstzerstörerische Tendenz des Kapitalismus ohne einen grundlegenden Wandel der Wirtschaftsweise selbst überwunden werden kann, steht nicht zu hoffen.

Emanzipationsanspruch ade: Der Wettbewerbsdruck in Bildung und Forschung

Mit diesem Wissensfundus im Hintergrund wird verständlich, dass das moderne Wissenschafts- und Hochschulwesen, über das Sandro Philippi referierte, nur ein Schauplatz der fortschreitenden Kommerzialisierung darstellt, der nichtsdestotrotz eine besondere Aufmerksamkeit verdient. „In der allgemeinen Wirtschaftskrise erscheint die Wissenschaft als eines der zahlreichen Elemente des gesellschaftlichen Reichtums, das seine Bestimmung nicht erfüllt. […] In dem Maß, als an die Stelle des Interesses für eine bessere Gesellschaft… das Bestreben trat, die Ewigkeit der gegenwärtigen zu begründen, kam ein hemmendes und desorganisierendes Moment in die Wissenschaft,“ erläuterte bereits Max Horkheimer im Jahr 1932, und aus Philippis Sicht hat diese Perspektive nichts an Aktualität eingebüßt. Wissenschaft und Bildung mögen seit der Zeit der Aufklärung das Versprechen in sich tragen, BürgerInnen zur gesellschaftlichen Emanzipation und Selbstbestimmung zu führen. Ob sie dieses Versprechen auch tatsächlich einlösten, sei jedoch mehr als fraglich. Vor allem eine notwendige Reflexion der Wissenschaft über ihre Stellung im Verhältnis zur Gesellschaft und Ökonomie vermisse man. Dabei sei diese notwendiger denn je, was eine Betrachtung der hochschulpolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte erweist.

Eine aktive Hochschulpolitik in der alten Bundesrepublik begann eigentlich erst in den 1960er und 70er Jahren, als bildungspolitische Reformen an den finanziellen und demokratischen Grundlagen des deutschen Universitätssystems ansetzten. Man verfolgte dabei sowohl politische als auch ökonomische Ziele: So wurde die Dominanz der Ordinarien, d.h. der Professoren und des Rektors, die bisher die Universitätsverwaltung bestimmt hatten, durch die demokratische Partizipation von Studierenden und der Mitarbeiter des akademischen Mittelbaus eingeschränkt; gleichzeitig wurde die finanzielle Ausstattung der Universitäten gestärkt und aufseiten der Studierenden das BAföG eingeführt. Man erhoffte sich durch eine Verbesserung der Ausbildungsbedingungen positive Rückwirkungen auf die Volkswirtschaft als Ganzes.

Diese hoffnungsvollen Ansätze trafen jedoch schon bald auf Schwierigkeiten. So wurde die anvisierte Drittelparität von Studierenden, Professoren und akademischem Mittelbau in der demokratischen Entscheidungsfindung an Hochschulen 1973 vom Bundesverfassungsgericht insoweit eingeschränkt, als es die Vorgabe aufstellte, Professoren auch weiterhin in allen wichtigen Angelegenheiten eine Mehrheit von mindestens 51 % einzuräumen. Bereits ein Jahr zuvor hatte das Gericht im sogenannten „NC-Urteil“ eine bedeutende hochschulpolitische Entscheidung gefasst und festgestellt, dass grundsätzlich alle BürgerInnen mit Hochschulzugangsberechtigung Anspruch auf einen Studienplatz hätten. Aus Kapazitätsgründen könne nur auf Grundlage einer Zuteilung nach einheitlichen Kriterien der Hochschulzugang rationiert werden, was sich in der Einführung des NC-Systems niederschlug. Die praktische Notwendigkeit für einen solchen eingeschränkten Bildungszugang sollte bereits 1977 augenfällig werden, als infolge einer zunehmenden Überlast an Studierenden die steigenden Hochschulfinanzen eingefroren wurden. Da die Universitäten jedoch weiterhin für alle Studierenden geöffnet blieben, kam diese Maßnahme über Jahrzehnte einer realen Kürzung der Hochschulfinanzierung infolge von Verschleiß und Inflation gleich.

Philippi merkt dabei an, dass die volkswirtschaftlichen Produktivitätszuwächse, von denen bereits oben die Rede war, nicht mehr die Universitäten erreichten. Stattdessen wurde die Universitätslandschaft durch verschiedene Mechanismen zunehmend dem Wettbewerb unterworfen. Im Zentrum standen dabei ein neuer mikroökonomischer Blickwinkel auf die Hochschule als ein zu managendes Unternehmen und eine Philosophie, nach der jedes Individuum selbst die Verantwortung für seine eigene Hochschulkarriere übernehmen sollte (die „Humankapitaltheorie“). Gleichermaßen zur Festigung dieser Ideologie wie zur Rechtfertigung der neuen Sachzwänge, denen die Hochschulen ausgesetzt wurden, begann man, die Methoden der Hochschulfinanzierung unter wettbewerblichen Gesichtspunkten neu zu gestalten.

So nahm die Höhe der Drittmittel in den Budgets der Universitäten sprunghaft zu, von rund 1 Milliarde DM 1975 auf 5,9 Milliarden € 2010. Über die Verwendung dieser außeretatmäßigen Finanzmittel, die etwa von der Deutschen Forschungsgemeinschaft oder Privatunternehmen eingeworben werden, entscheidet seit 1985 der jeweilige Lehrstuhlinhaber ohne Beteiligung demokratischer Gremien der Hochschule, was einerseits die an den Projekten arbeitenden WissenschaftlerInnen in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Lehrstuhlinhaber setzt, andererseits die Gefahr der Intransparenz gegenüber der universitären und allgemeinen Öffentlichkeit erhöht. Darüber hinaus bedeutet eine steigende Drittmittelquote eine zunehmende Einflussnahme privater Interessen auf öffentliche Hochschulforschung.

Ein weiteres Instrument, die leistungsorientierte Mittelvergabe, setzt statistische Kennziffern ein, um anschließend eine Zuteilung von Finanzmitteln an die einzelnen Hochschulen festzulegen. Auf diese Weise werden recht starre quantitative Vorgaben gemacht, die nicht unbedingt etwas über den gesellschaftlichen Mehrwert der betriebenen Forschung aussagen müssen. In ein ähnliches Horn bläst die berüchtigte Exzellenzinitiative, bei der eine Umverteilung von allgemeinen Hochschulmitteln auf eine kleine ausgewählte Elite im Vordergrund steht. Anstatt den qualitativen Abstand zwischen einzelnen Hochschulstandorten zu verringern, verstärkt man durch solche an ökonomischer Verwertbarkeit der Forschung orientierten Ansätze die Hierarchisierung der Hochschullandschaft, was wiederum als Legitimation für die Bevorzugung der „Besten“ in der nächsten Förderrunde herhalten muss.

Ergänzt werden diese finanziellen Mechanismen durch eine Stärkung der Alleinentscheidungskompetenzen der Hochschulrektorate etwa über einen einzigen Globalhaushalt und durch Änderungen in der Studienordnung. Während der politische Spuk der Studiengebühren wohl in Deutschland vorläufig beendet ist, bestehen immer noch weitere Zugangsbeschränkungen wie Verwaltungsgebühren und Auswahlverfahren für einzelne Studiengänge. Der Bologna-Prozess und die Einführung des BA- und MA-Systems dienten in diesem Kontext dazu, durch Verkürzung von Studienzeiten weitere Finanzmittel einzusparen und mit der Rationierung der Master-Studienplätze eine weitere Zugangshürde einzuziehen.

Die Alternative: Kritische Reflexion und Selbstorganisation

Sandro Philippi sieht trotz dieser alarmierenden Entwicklungen aktuell allerdings nur einen geringen Mobilisierungsgrad der Studierenden und Mitarbeitern an deutschen Universitäten. Ob dafür der ständige Zwang zur Selbstvermarktung, welcher kritisches Denken unter den Betroffenen allzu leicht verdrängt oder eine Denkhaltung, die eine grundsätzlich Trennung von Arbeit bzw. Ausbildung und Politik befürwortet, die Verantwortung trägt, lässt sich nicht leicht feststellen. Dass ein stärkeres Engagement der gesamten Studierendenschaft aber wünschenswert wäre, um die notwendige Debatte über Kommerzialisierung von Bildung und Wissenschaft anzustoßen, steht jedoch fest.

Demgegenüber möchte Lothar Galow-Bergmann bereits bei den gedanklichen Grundlagen einer verbreiteten Indifferenz gegenüber den fatalen Entwicklungen im kapitalistischen System ansetzen. Er spricht dabei von einem Gedankengefängnis, das die eigene Vorstellungskraft bei der Suche nach Alternativen zum jetzigen Wirtschaftssystem einschränkt: Anstatt sich in den Begriffen des Kapitalismus etwa durch die angeblich fehlende Finanzierungsgrundlage öffentlicher Einrichtungen wie Schwimmbäder einschüchtern zu lassen, sei es angebracht, sich vor Augen zu führen, dass die volkswirtschaftliche Produktivität und der physische Reichtum sehr wohl vorhanden sind, um gesellschaftlich sinnvollen Mehrwert zu schaffen. Engagierte Ansätze gibt es bereits, wenn z.B. Studierende an der Berliner Humboldt-Universität abseits der regulären Vorlesungen eine eigene Volkswirtschaftslehrstunde organisieren, weil sie davon überzeugt sind, dass die offizielle VWL ihnen keine Antworten auf ihre Fragen nach den krisenhaften Eigenschaften der Marktwirtschaft geben kann. Oder wenn sich an vielen Orten immer mehr Gruppen der Sharing Economy, der neuen Tauschwirtschaft bilden, die Güterverteilung abseits des Marktmechanismus organisieren.

Es kommt Galow-Bergmann darauf an, dass jeder neue Ansatz unbedingt auf der Selbstorganisation von Individuen abseits traditioneller politischer Führungsstrukturen beruhen soll. Wenn eine neue Bewegung hin zu einer Überwindung kapitalistischer Verwertungslogik entstehe, dürfe sie sich weder durch den Irrweg oberflächlicher Kapitalismuskritik noch durch die behauptete Alternativlosigkeit des aktuellen Gesellschaftsmodell verwirren lassen. Denn nur wenn der Glaube an unbewiesene Leitsätze der Wettbewerbsgesellschaft – wie etwa: der Mensch lasse sich grundsätzlich von Egoismus leiten – überwunden werden kann, stehen die Türen zu einer neuen Form des sozialen Zusammenlebens offen.

Konstantin Eisel