Gemeinschaftsunterkunft Atrium: Zaun entfernt, Quarantäne aufgehoben. Alles gut?

Autor | 15. April 2020

Ende einer dreitägigen Lagerhaft: Am Dienstagvormittag bauten Mitarbeiter der städtischen Technischen Betriebe den Zaun um die Massenunterkunft Atrium wieder ab. Die Stadtverwaltung hatte die Abriegelung verfügt, nachdem ein Bewohner positiv auf Covid-19 getestet worden war. Sie verteidigt die vielkritisierte Maßnahme als „dringend geboten“, der zuständige Sozialbürgermeister Andreas Osner weist die unter anderem von der Konstanzer Seebrücke erhobenen Rassismusvorwürfe als „abwegig“ zurück. Der Stand der Dinge und ein Kommentar.

Am Karfreitag sperrten TBK-Mitarbeiter die Gemeinschaftsunterkunft in der Luisenstraße, in der 97 Menschen unter beengten Verhältnissen leben müssen, mit einem Bauzaun ab. „Niemand darf raus, niemand darf rein“, zitierte das Ortsblatt einen Polizeibeamten. Als Grund für den Freiheitsentzug gab die Stadt in einer am Dienstag veröffentlichten Mitteilung an, trotz eines schon in den Wochen zuvor ausgesprochenen Besuchsverbots habe „weiterhin ein reger Besucherverkehr“ in den Gemeinschaftsunterkünften stattgefunden. Nachdem der Covid-19-Befund eines Bewohners bekannt geworden sei, „erschien … die Aufstellung des Bauzaunes aus fachlicher Sicht des Gesundheitsamtes als dringend geboten, um eine Quarantäne des Hauses wirksam sicherstellen zu können und damit weitere gesundheitliche Risiken für die Bewohner des Hauses und der Stadt abzuwenden“.

Die derweil an allen 97 BewohnerInnen vorgenommenen Tests haben der städtischen Mitteilung zufolge ergeben, dass weitere drei Menschen mit Covid-19 infiziert sind, zwei Mitglieder einer 9-köpfigen Familie und eine Einzelperson. Die hat man nun in separaten Unterkünften isoliert, die Quarantäne für die übrigen Atrium-BewohnerInnen wieder aufgehoben und den Zaun entfernt. Die Stadt sieht sich durch den Verlauf in ihrem Vorgehen bestätigt. „Durch die umgehend eingeleiteten Maßnahmen und die Einschaltung von medizinischem Fachpersonal konnten die gesundheitlichen Risiken für die Bewohner und auch alle anderen in Konstanz reduziert werden.“

In einem eigenen Statement bezeichnet zudem Sozialbürgermeister Osner, den Seebrücke-Vorwurf, das Vorgehen der Stadt beim Atrium sei von Rassismus gekennzeichnet, als „abwegig“, er gehe „an der Sache völlig vorbei“. Der Bürgermeister erinnert an die vorliegende „Ausnahmesituation“ – „Es geht hier um Menschenleben!“ –, für die es mit der Corona-Rechtsverordnung zudem einen klaren rechtlichen Rahmen gebe. Er betont, bei der Abriegelung habe es sich um eine „rein fachliche, genau abgewogene Entscheidung“ in Absprache mit dem Gesundheitsamt gehandelt. Zudem gelte ja auch für Kliniken und Pflegeheime ein Besuchsverbot. Osner wörtlich: “In dieser Rechtsverordnung sind viele harte Einschränkungen für die Bevölkerung festgelegt und Notfallregelungen für die öffentliche Verwaltung, die in besonderer Weise Verantwortung für die Sicherheit und Gesundheit der Menschen trägt. Diese Regeln betreffen alle Menschen, ausnahmslos.“


„Es geht hier um Menschenleben“

Ob das dann doch schnelle Ende des behördlich verfügten Freiheitsentzugs eine Folge der breiten Empörung war, die der Verwaltung über Ostern entgegenschlug, darüber kann nur spekuliert werden. Auffällig ist aber schon, mit welcher Ausführlichkeit die Verantwortlichen versuchen, ihr Vorgehen als alternativlos zu rechtfertigen. Überzeugend entkräften können sie die Rassismusvorwürfe damit indes nicht. Einmal abgesehen vom dramatischen Ton, den Osner anschlägt („Es geht hier um Menschenleben!“), verfängt man sich in Widersprüchlichkeiten. Denn zum einen hinkt der angestellte Vergleich mit der Situation in Heimen und Krankenhäusern gewaltig. Während nämlich in diesen Kranke oder Pflegebedürftige von kompetentem Personal umsorgt werden (oder das sollten), müssen in den Massenunterkünften gesunde Menschen, kinderreiche Familie wie Singles, Junge wie Alte unter übelsten Bedingungen hausen, die nicht nur das Leben empfindlich einschränken, sondern auch das behördliche Abstandsgebot unmöglich machen.

Zum anderen ist es kein Geheimnis, dass es auch in erstgenannten Einrichtungen, und nicht nur dort, Verstöße gegen die rigiden staatlichen Einschränkungen gibt. Es ist die von den Konstanzer Behörden vorgenommene unterschiedliche Bewertung solcher Verstöße, die den Rassismusvorwurf laut werden lässt. Im Fall der eingepferchten Geflüchteten ist es „reger Besucherverkehr“, der „öfter beobachtet wurde“ – wie beziffert man „rege“, wie oft ist „öfter“? Dem deutschen Bevölkerungsteil dagegen wird ein Kranz für seine Folgsamkeit geflochten: „alle halten sich daran“, nun ja: „fast ausnahmslos“. Auch hier die Frage: wie wenig Ausnahmen müssen es denn sein, um so eine Aussage zu treffen? Sprache ist eben verräterisch. In diesem Fall untermauert sie den Verdacht, dass die Verantwortlichen mit zweierlei Maßstäben messen. Da die fremden Asylsuchenden, deren Uneinsichtigkeit es mit kollektivem Freiheitsentzug zu ahnden gilt, dort die braven deutschen Untertanen, von denen einige halt mal aus der Rolle fallen. Ganz offenkundig gelten die Regeln eben nicht ausnahmslos für alle Menschen gleich.

Wortreich bemüht die Stadt zudem die seuchenbedingte Ausnahmesituation, die harte Einschränkungen rechtfertige. Kein Wort indes verliert sie über die am dringendsten gebotene Maßnahme, um das medizinisch erforderliche „social distancing“ für Geflüchtete überhaupt möglich zu machen. Die Massenunterkünfte, unter hygienischem Aspekt ja wirklich Durchlauferhitzer für die Virenverbreitung, müssen umgehend aufgelöst und die BewohnerInnen dezentral untergebracht werden. Keine leichte Aufgabe, gewiss, aber auch wir möchten daran erinnern: Es geht hier um Menschenleben.

MM/J. Geiger

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