Immer mehr Kinder und Jugendliche fliehen nach Konstanz

Autor | 26. September 2014

Save me - Flüchtlinge aufnehmenDas Elend vor allem in den Ländern des Nahen Ostens wie Irak und Syrien ist mittlerweile auch bei uns angekommen. Besonders hart trifft es unbegleitete Minderjährige, die entweder aus eigenem Antrieb oder auf Initiative ihrer Familie allein den Weg über das Mittelmeer und die grüne Grenze nach Konstanz einschlagen. Aber es fehlt hierzulande an Aufnahme- und Betreuungsmöglichkeiten, und die Grenzgemeinden fühlen sich im Stich gelassen, wie in der Gemeinderatssitzung am Donnerstag deutlich wurde.

Die Sitzungsvorlage lässt die Dimension der menschlichen Tragödie, die sich (auch durch eine verfehlte Politik westlicher Länder) Tag für Tag abspielt, erahnen: „Je nach Alter und Herkunft sind die Motive für die Einreise unterschiedlich. Während jüngere Kinder von Eltern bewusst aus Krisengebieten in Sicherheit gebracht werden, desertieren männliche Jugendliche oft aus konkreten Kriegshandlungen oder vor Zwangsrekrutierungen. In Deutschland war das Phänomen der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge über viele Jahre begrenzt auf Großstädte und Ballungsräume. In ländlichen Gebieten ohne internationalen Flughafen war die Notversorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bis vor ca. 3-4 Jahren eine Randerscheinung. Seit dem Jahreswechsel 2013/2014 sehen sich die Stadt und der Landkreis Konstanz Einreisezahlen gegenüber, die bei gleichbleibender Entwicklung bis zum Jahresende 2014 eine 20- bis 30-fache Steigerung der bisherigen Fallzahlen bedeuten würde.“ Nach Angaben von Ute Seifried, der Leiterin des Sozial- und Jugendamtes, werden im Jahr 2014 bereits über 100 unbegleitete Minderjährige im Kreis Konstanz erwartet, „Der Irak geht – bedingt durch den Terror dort – auf Wanderschaft,“ sagte sie und berichtete sichtlich bewegt von ein- und zweijährigen Kindern, die von Schleppern nach Konstanz gebracht wurden.

Betreuung ist nötig

Das Jugendamt fühlt sich schon seit geraumer Zeit massiv überlastet, denn diese Jugendlichen benötigen nicht nur eine Unterkunft, die allein schon schwierig zu finden ist, sondern sind oft durch Erlebnisse zuhause und auf der Flucht sowie durch die Trennung von den Eltern traumatisiert. Außerdem leiden sie oft unter Krankheiten und sind der hiesigen Sprachen unkundig. Eine normale Pflegefamilie ist für solche Minderjährigen keine Lösung, denn sie müssen in dieser fürchterlichen Situation durch Fachkräfte betreut werden, sofern sie keine Verwandten in Deutschland haben. Bisher konnte in Zusammenarbeit mit dem Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf Wahlwies eine Lösung gefunden und auch die nächtliche Notaufnahme der von der Polizei Aufgegriffenen dank einer speziellen Wohngruppe „Refugium“ weitgehend sichergestellt werden. „Bereits mit der Unterbringung im ‚Refugium’ beginnt,“ so Ute Seifried, „eine zeitintensive und zunehmend aussichtslose landesweite Suche nach einem geeigneten Platz für eine Folge-Unterbringung.“

Die in Sachen Kinder und Jugendliche sehr rührige Gabriele Weiner (FWK) forderte für diese Jugendlichen eine längere Duldung als bisher, denn derzeit müssen sie Weiners Angaben nach alle drei Monate einen neuen Antrag stellen. Außerdem sprach sie sich dafür aus, den betreffenden Kindern und Jugendlichen in dieser für ihr ganzes späteres Leben prägenden Phase eine Zukunftsperspektiven in Schule und Ausbildung zu eröffnen. Sehr engagiert ist bei dieser Thematik stets auch Zahide Sarikas (SPD), die daran erinnerte, dass Deutschland direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich größere Flüchtlingsströme aufgenommen hat, und anklingen ließ, wie verzweifelt eine Mutter sein muss, die ihre Kleinkinder einem Schlepper übergibt.

Mehr Personal fürs Jugendamt

Anke Schwede (LLK) forderte als Konsequenz eine bessere personelle Ausstattung des Jugendamtes. „Ein Problem sehen wir darin, dass sich die Jugendämter seit einiger Zeit mit immer mehr Aufgaben konfrontiert sehen, was die Frage des Kinderschutzes angeht. Also müssen die Jugendämter personell und infrastrukturell besser ausgestattet werden. Darüber hinaus halten wir angesichts der hohen Flüchtlingszahlen Konzepte für eine menschenwürdige Asylpolitik für vordringlich. Kernpunkt eines solchen Konzepts muss die Bereitstellung von ausreichend Mitteln im Kreishaushalt und den kommunalen Haushalten sein, um die Bedürftigen adäquat unterzubringen – und zwar dezentral in Wohnungen und nicht in lagerähnlichen Unterkünften“.

Für einmal waren sich alle im Gemeinderätinnen und –räte einig, dass der jetzige Zustand unhaltbar ist, und Einigkeit herrschte selbst in der Gretchenfrage, wer das alles bezahlen soll. Das Problem besteht aus Sicht der Stadt Konstanz derzeit vor allem darin, dass die finanziellen und organisatorischen Lasten der Aufnahme und Betreuung bei Stadt und Kreis Konstanz verbleiben und sich weder andere (weniger betroffene) Kommunen noch Bund oder Land angemessen an den Aufgaben und Kosten beteiligen. Daher beschloss der Gemeinderat einstimmig eine Resolution, die die drei Konstanzer Landtagsabgeordneten in den Landtag einbringen sollen.

WORTLAUT: Schwede zur Gemeinderats-Resolution wegen der Verteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen

Die Linke Liste Konstanz wird der vorgelegten Resolution zustimmen. Wir sehen, dass das Jugendamt mit der Betreuung der immens gestiegenen Anzahl von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen überlastet ist. In diesem Zusammenhang halten wir es für sinnvoll, dass die Jugendlichen in größeren Städten und Gemeinden mit guter ÖPNV-Anbindung sowie zufriedenstellenden Bildungs- und Freizeitangeboten untergebracht werden. Also nicht in Orsingen-Nenzingen oder Büsingen, sondern eher in Radolfzell oder Stockach. Gut vorstellen können wir uns auch die Unterbringung der Betroffenen in Wohngruppen oder Wohngemeinschaften.

Ein Problem sehen wir darin, dass sich die Jugendämter seit einiger Zeit mit immer mehr Aufgaben konfrontiert sehen, gerade was die Frage des Kinderschutzes angeht. Ich denke wir sind uns darüber einig, dass das Kindes- und Jugendlichenwohl an erster Stelle steht. Also müssen die Jugendämter – die das durchsetzen sollen – entsprechend personell und infrastrukturell ausgestattet werden.

Darüber hinaus halten wir angesichts der hohen Flüchtlingszahlen Konzepte für eine menschenwürdige Asylpolitik für vordringlich. Wir schlagen deshalb die Einrichtung einer gemeinsamen Arbeitsgruppe aus Vertretern von Landkreis und Kommunen vor, die sich auf bindende flüchtlingspolitische Eckpunkte verständigt. Kernpunkt eines solchen Konzepts muss die Bereitstellung von ausreichend Mitteln im Kreishaushalt und den kommunalen Haushalten sein, um die Hilfebedürftigen adäquat unterzubringen – und zwar dezentral in Wohnungen und nicht in lagerähnlichen Unterkünften. Notwendig sind darüber hinaus alle Maßnahmen, die die Integration der Flüchtlinge in ihre neue Umgebung fördern. Sie müssen die Chance erhalten, auf eigenen Beinen zu stehen, d. h. dass die Flüchtlinge einer Arbeit nachgehen und ihre Kinder die Schule besuchen können.

Noch ein Wort zu dem Zusammenwirken von Bund, Ländern und Gemeinden. Es ist unumgänglich, dass Bundes- und Landesregierung die Kommunen, die die Hauptlast der Unterbringung tragen, stärker unterstützen. Dem am 17.9. veröffentlichten Appell des Deutschen Städtetags an Bund und Länder „alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um die Kommunen bei der Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern und Flüchtlingen zu entlasten und damit ihrer Verantwortung stärker als bisher gerecht zu werden“, ist nicht hinzuzufügen.

Auch Bund und Land sind gefragt

Die Landesregierung wird in dieser Resolution gebeten, durch eine Bundesratsinitiative die rechtlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge nach dem für die erwachsenen Flüchtlinge gültigen Schlüssel im Land Baden-Württemberg gleichmäßig auf alle Städte und Landkreise verteilt werden können, was derzeit nicht der Fall ist, da die Gemeinde zuständig ist, in der die Kinder und Jugendlichen ankommen. „Nur eine ausgeglichene Verteilung, gepaart mit einer gemeinsamen Anstrengung aller Städte und Landkreise, eröffnet den jungen Menschen eine ausreichend gute Lebensperspektive.“

Es ist natürlich beschämend, dass es in Deutschland nötig ist, für eine adäquate Versorgung der Ärmsten der Armen, die irgendwie die EU-Grenzen überwunden und anders als viele ihrer Leidensgefährtinnen und -gefährten die Flucht überlebt haben, Resolutionen zu beschließen, weil Bund, Land und viele nicht betroffene Kommunen versuchen, sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Es ist die alte föderale Leier: Den Kommunen werden Aufgaben zugewiesen, denen sie allein kaum gewachsen sind, und dann lässt man sie im Regen stehen – selbst wenn’s am Ende womöglich die Flüchtlinge ausbaden müssen.

O. Pugliese

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