“Was ist uns eigentlich die Rettung von Menschen wert?”

Autor | 23. Oktober 2015

In der Debatte um die Unterbringung von Geflüchteten auf der gestrigen Gemeinderatssitzung hat der LLK-Stadtrat Holger Reile in einem Redebeitrag auf die Ursachen hingewiesen, die gegenwärtig weltweit 60 Millionen Menschen zur Flucht zwingen. Insbesondere benannte er die deutsche Verantwortung für Kriege und Wirtschaftskrisen unter anderem im Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika. Der Beitrag im Wortlaut:

Bislang hat sich gezeigt, dass die Hilfsbereitschaft auch der Konstanzer Bevölkerung enorm ist. Allen, die sich für Flüchtlinge engagieren, gebührt somit allergrößte Anerkennung. Wir müssen damit rechnen, dass noch mehr zu uns kommen werden – hier stehen Bund, die Länder und vor allem die Kommunen vor einer gewaltigen Aufgabe. Das kürzlich geänderte Asylrecht hilft uns da nicht weiter, im Gegenteil, es verschärft die Lage. Auch meterhohe Stacheldrahtzäune – weder in den Köpfen noch an den Grenzen – werden nicht verhindern, dass noch mehr Menschen bei uns und in anderen europäischen Ländern Schutz suchen. Machen wir uns alle doch bitte nichts vor: Wir würden genauso handeln, wenn unsere Heimat in Schutt und Asche läge.

Ein weiterer Punkt: Milliardenbeträge in dreistelliger Höhe wurden bereit gestellt, um Banken zu retten. Was, liebe Anwesende, ist uns eigentlich die Rettung von Menschen wert? Und ja, nun sind wir mit einer Situation konfrontiert, an der wir nicht ganz unschuldig sind: Deutsche Waffenlieferungen tragen zu Massenmord und Verwüstung bei , füllen die Kassen von Heckler und Koch und anderen, die vom weltweiten Elend profitieren. Man möchte die Kriegsursachen bekämpfen heißt es nun – aber mit hohlen Phrasen und Absichtserklärungen allein ist es nicht getan. Wir sollten auch nicht vergessen, dass wir – entweder direkt oder indirekt – mit daran beteiligt waren, vor allem den Nahen und Mittleren Osten zu destabilisieren. Erinnern Sie sich noch an den verantwortungslosen Satz eines deutschen Politikers, der behauptet hat, unsere Freiheit würde auch am Hindukusch verteidigt?

Und wir sollten uns auch nicht wundern, wenn der nordafrikanische Gemüsehändler den oft todbringenden Weg über das Meer sucht, weil er gegen den Billigimport aus Europa nicht konkurrieren kann – Genauso wenig wie der Betreiber einer kleinen Hühnerfarm in Ostafrika, das ebenfalls von europäischen Fleischimporten überhäuft wird – und auch die westafrikanischen Fischer, deren Fischgründe von weltweit agierenden Fangflotten geleert werden und diesen Opfern der skrupellosen und menschenverachtenden Globalisierung – TTIP lässt nachhaltig grüßen – gar nichts anderes übrig bleibt, als ihr Glück oder wie man das auch immer nennen mag, in anderen Ländern zu suchen. So gesehen haben auch wir eine moralische Verantwortung, der wir uns nicht entziehen können und auch nicht entziehen dürfen. Ich hoffe und bin mir eigentlich auch sicher, dass die Konstanzer Bürgerschaft weiterhin Flagge zeigt und mithilft, die Situation zu meistern, denn ohne ihre Unterstützung geht es nicht.

Ein Wort noch zum Schluss: Wie die meisten von Ihnen wissen, werden mittlerweile einige aus unserer Ratsmitte mit dem Tode bedroht, weil sie sich für die Belange von Flüchtlingen einsetzen. Ein völlig untragbarer Zustand. Vor allem auch deswegen, weil die Hemmschwellen niedergetrampelt werden, ein enthemmter und mordlüsterner Pöbel grölend durchs Land zieht und Flüchtlingsunterkünfte in Brand setzt.

Dagegen müssen wir gemeinsam angehen, denn auch hier im Landkreis formieren sich Rassismus und zynische Menschenverachtung – wie den fast durchweg widerlichen Äußerungen im Netz unschwer zu entnehmen ist. Ich vermute, es ist an der Zeit, an einen Aufruf zu erinnern, der vor Jahren in einer ähnlichen Situation bundesweit die Runde machte: Er nannte sich: Der Aufstand der Anständigen.

Holger Reile

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