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Gemeinderat macht der Verwaltung Dampf bei der Flüchtlingsunterbringung

Das hatten sich der Oberbürgermeister und seine Mannen von der Verwaltungsspitze ganz anders vorgestellt. Sie wollten sich schwerpunktmäßig in den nächsten Monaten mit der Suche nach Grundstücken und Räumlichkeiten für Gemeinschaftsunterkünfte befassen und dafür die unmittelbar anstehenden Anschlussunterbringungen in Egg und am Zergle in Wollmatingen “vorerst” zurückstellen und die Bürger erst einmal ausführlich konsultieren. Dafür wurden sie vom Gemeinderat kräftig abgewatscht.

Das Thema Flüchtlingsunterbringung kocht angesichts explodierender Flüchtlingszahlen hoch, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Stadt Konstanz die ganze Angelegenheit auf die lange Bank schieben will, um unter Verweis auf fehlende Unterbringungsmöglichkeiten möglichst wenige Flüchtlinge beherbergen zu müssen. Während andere Gemeinden des Landkreises ihr Soll übererfüllt haben, liegt die Stadt Konstanz in Sachen Flüchtlinge weit zurück, und das gibt die Verwaltung in ihrer Vorlage auch unumwunden zu: “In einer Mail vom 13. Juli 2015 teilt das Landratsamt mit, dass derzeit 336 Flüchtlinge in Konstanz in zwei Unterkünften [Steinstraße und Atrium] untergebracht sind. Bis Ende 2015 muss Konstanz insgesamt 694 Flüchtlinge aufnehmen.” Das heißt, es fehlen bis Jahresende in Konstanz weitere 358 Plätze.

Gemeinschaftsunterbringung versus Anschlussunterbringung

Um die teils heftige Debatte im Gemeinderat zu verstehen, muss man wissen, dass es zwei Typen der Flüchtlingsunterbringung gibt:

In Gemeinschaftsunterkünften (wie etwa in der Steinstraße) erfolgt die Erstunterbringung von Flüchtlingen, für die zwar der Landkreis zuständig ist (= zahlen muss), für die die Kommunen dem Landkreis aber zuarbeiten, indem sie beispielsweise Immobilien vorschlagen und an den Landkreis vermitteln oder vermieten. Das sind Objekte, in denen mindestens 40 Personen untergebracht werden können. Pro Flüchtling besteht ab 2016 ein Anspruch auf 7 Quadratmeter zuzüglich der Flächen für gemeinschaftliche Sanitär- und Küchenbereiche. Flüchtlinge sind verpflichtet, bis zur Entscheidung über das Asylverfahren in diesen Gemeinschaftsunterkünften zu wohnen. Der Landkreis wird jetzt Turnhallen als Gemeinschaftsunterkünfte nutzen, so groß ist die Not.

Sobald eine Entscheidung über den Status der Flüchtlinge getroffen wurde, oder wenn die Asylsuchenden 24 Monate in der Gemeinschaftsunterbringung gelebt haben, dürfen sie dort ausziehen. Jede Gemeinde des Landkreises hat dafür je nach ihrer Einwohnerzahl eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen und ist für diese Anschlussunterbringung selbst zuständig. Aufgrund der Situation auf dem Wohnungsmarkt ist es meist unmöglich, für Flüchtlinge auf dem eine Wohnung zu finden. Die Gemeinde muss daher für die Flüchtlinge oft selbst Wohnraum suchen oder bauen. Dies können Einzelwohnungen, aber auch Wohnkomplexe oder ähnliches sein. Die Gemeinde hat also ein Problem.

Die Stadt Konstanz hat für eine solche Anschlussunterbringung bisher das Zergle und einen Platz in Egg ins Gespräch gebracht. Dafür hat das Land Fördergelder von 1.071.000 Euro am Zergle und 677.250 Euro in Egg zugesagt. Diese Förderung ist gesichert, wenn der erste Spatenstich für die jeweiligen Projekte am 01. März 2016 getan wird, aber Bürgermeister Karl Langensteiner-Schönborn philosophierte schon über eventuelle Verlängerungsmöglichkeiten, was nichts Gutes verheißt.

WORTLAUT | Stadtrat Holger Reile erläuterte in seinem Redebeitrag die Position der Linken Liste: Dieser Vorlage können wir nicht zustimmen, denn sie weist in eine völlig falsche Richtung. Wir sollten weiterhin Flächen oder Leerstand für Erstunterkünfte und gleichzeitig Standorte für Anschlussunterbringungen suchen. Von letzterem abzusehen wäre ein fataler Fehler.

Ablehnen müssen wir auch den Vorschlag, anstehende Bauvorhaben für Anschlussunterbringung einzumotten und vorab ein sogenanntes Konsultationsverfahren mit wieder mal externer Hilfe für sage und schreibe 50 000 Euro auf den Weg zu bringen. Das nenne ich Verschleppung, diese zeitliche Verzögerung inklusive der Geldausgabe sollten wir uns sparen.

Wir brauchen sofort schnelle Lösungen für die kommenden Monate. Will heißen: Leerstehenden Gewerberaum umgehend ermitteln, dazu auch leerstehende Immobilien in der Stadt rasch auflisten. Denn es gibt sie und zwar nicht zu knapp. Ihre Aussage, Herr Oberbürermeister, das brächte gerade mal Platz für wenige Familien, ist so nicht richtig. Unser Vorschlag ist weiterhin: Mit den Besitzern leerstehender Immobilien verhandeln und ihnen anbieten, finanziell bei der Sanierung ihrer Häuser und Wohnungen unter die Arme zu greifen und im Gegenzug dafür langfristige Pacht- oder Mietverträge zu sozial verträglichen Konditionen zu bekommen. Das kann man meinetwegen auch nichtöffentlich machen, damit der Vorwurf der Denunziation im Keim erstickt wird. Unser Gremium sollte aber informiert werden, wie sich diese Bemühungen gestalten.

Nun stehen wir vor der Situation, dass spätestens nach der Sommerpause die ersten Turnhallen mit Flüchtlingen belegt werden. Wir halten das für einen gefährlichen Weg, denn damit spielt man den Brandstiftern aus der rechten Ecke in die Karten. Gehen wir aber diesen Weg, dann könnte die Konstanzer Willkommenskultur schnell kippen und ins Gegenteil umschlagen. Ich habe einigen hier schon mal geraten, sich auch auf lokalen und regionalen Seiten auch hier im Netz umzuschauen. Was sich da massenhaft zusammenbraut ist mehr als besorgniserregend. Turnhallen müssen unserer Meinung nach auf der Optionsliste ganz weit unten stehen. Sie ohne die Prüfung anderer Möglichkeiten zu belegen wäre pure Zündelei.

Auch die vielfach geäußerte Aussage, Container seien nicht mehr zu haben, ist falsch. Gerade baut in Berlin eine Firma aus Österreich ein Containerdorf für rund 2500 Flüchtlinge und das sind wirklich keine heruntergekommenen Blechhütten. Anderswo plant man ähnlich. Auch diese Option sollten wir umgehend auf ihre Machbarkeit überprüfen. Einbinden könnte man auch unseren Behindertenbeauftragten Stephan Grumbt, der als hauptberuflicher Logistiker sicher bereit ist, seine Erfahrungen einzubringen. Geeignete Standorte für Containerdörfer haben wir – beispielsweise den Parkplatz am Schwaketenbad. Wir bleiben dabei: Diese Vorlage ist aus vielerlei Gründen nicht geeignet, das anstehende Problem zu lösen.

Holger Reile

Will sich die Stadt drücken?

Wie gesagt: Die Verwaltung wollte jetzt erst einmal verstärkt nach Gemeinschaftsunterkünften (für den Landkreis) und erst dann irgendwann nach individuelleren Anschlussunterkünften suchen, um den eigenen Pflichten nachzukommen, statt beides gleichzeitig voranzutreiben. Weshalb eigentlich in dieser Reihenfolge? Warum nicht beides gleichzeitig oder die Anschlussunterbringung, die doch ureigenste Aufgabe der Stadt ist, zuerst? Weshalb also diese beiden Projekte Egg und Zergle “vorerst” zurückstellen und erst einmal ausgiebige Konsultationen mit den Bürgern durchführen?

Die Stadtoberen führten ihre persönliche brutale Arbeitsbelastung sowie Personalengpässe an – ausgerechnet jene Herrschaften also, die am Personal sparen, wo es geht, außer natürlich, wenn es sich um Schickimicki-Fummel wie duale Karrieren oder Kongresshäuser handelt, für die immer wieder bestens dotierte Stellen vom Himmel fallen.

Der (tatsächlich überarbeitete) Sozialbürgermeister Andreas Osner beklagte, dass er mittlerweile 33% seiner Arbeitszeit für Flüchtlingsfragen aufwenden müsse, obwohl er auch noch Schulen, Sport und viele andere Themengebiete am Halse habe. Er lasse sich bisher auch noch in den als Standort vorgesehenen Ortsteilen von den Menschen verbal verhauen und wolle deshalb die Menschen mitnehmen, denn man komme in dieser Frage nicht mit dem Kopf durch die Wand. Oberbürgermeister Uli Burchardt behauptete, die Stadt kriege das nicht gebacken schlichtweg aus Mangel an Manpower (die er selbst zu verantworten hat, was er aber zu erwähnen vergaß) und bejammerte die “Kriegsgewinnler”, die Container für 20 Flüchtlinge für 10.000 Euro Monatsmiete anböten (Zwischenruf Holger Reile von der LLK: “Das stimmt doch nicht!). Man darf beim wirtschaftswarmen Uli Burchardt allerdings getrost vermuten, dass er es als Vermieter von Containern nicht anders hielte.

Warum das alles?

Hmmm, eine gute Frage. Die Stadtverwaltung: Guten Willens, aber heillos überlastet. Die Flüchtlinge: Herzlich willkommen, aber zu zahlreich und zudem noch gänzlich unangemeldet. Der Wohnungs- und Grundstücksmarkt: Leer, zumindest für Schlecht- oder Normalbetuchte. Die Bürger: Guten Willens, aber man muss mit ihnen doch erst mal ein paar Monate lang reden, weil vor ihrer eigenen Haustür, Ängste und so.

Ist es diese Gemengelage, die die Stadtoberen zu sehr belastet, als dass sie gleichzeitig beide Unterbringungsmöglichkeiten, Gemeinschafts- und Anschlussunterkünfte, vorantreiben könnten?

In der Vorlage für den Gemeinderat findet sich ein verräterischer Satz: “Der Landkreis unterscheidet bei den zu belegenden Plätzen nicht nach Anschlussunterbringung und Erstaufnahme. […] Die Stadt Konstanz müsste zum Ende des Jahres insgesamt 694 Flüchtlinge/Asylbewerber in Unterkünfte aufnehmen.” Und dabei ist es egal, ob sie die Flüchtlinge in Gemeinschaftsunterbringung oder Anschlussunterbringung verfrachtet. Und da ist die Gemeinschafts(massen)unterbringung natürlich die einfachere Lösung, zumal die der Landkreis an der Backe hat. Aber das sagt so natürlich niemand in Konstanz. Da ist Arbeitsüberlastung ein viel sympathischerer Beweggrund.

Wie auch immer, um Motive ging es dem Gemeinderat am Donnerstag nicht, als er der Verwaltung – mit Verlaub – kräftig in den Arsch trat. Nach beinahe zweistündiger Diskussion, in der Christiane Kreitmeier (FGL) gleich mehrere Sternstunden hatte (“Herr Osner, wenn 33% ihrer Arbeitszeit für die Flüchtlinge nicht reichen, dann arbeiten sie doch mehr”), wurde trotz sinistrer Drohungen des Oberbürgermeisters (“wenn Sie das beschließen, müssen wir mehrere andere Projekte sterben lassen”) beschlossen, dass 1. die Verwaltung gefälligst gleichzeitig Anschlussunterbringung und Gemeinschaftsunterbringung vorantreiben soll, dass 2. spätestens am 1. März 2016 im Zergle und in Egg (wo auch immer dort) Baubeginn für die Anschlussunterbringung sein soll und dass es 3. gleichzeitig 50.000 Euro für jene Bürgerkonsultation gibt, für die die Stadt kein Personal hat – da fragt sich doch: warum lässt man eigentlich die Integrationsbeauftragte Elke Cybulla so konsequent außen vor?

Eine schlanke Verwaltung ist scheint’s schnell mit humanitären Aufgaben wie mit mehr Bürgerbeteiligung überfordert. Und die Klatsche, die sie sich eingefangen hat, haben zumindest Teile der Verwaltung in diesem Fall aus humanitären Gründen redlich verdient.

O. Pugliese

“Viele sind nur eine Krankheit oder Kündigung vom Absturz in die Armut entfernt”

Hartz-IV-bleibt-armut-per-gesetzWer hätte gedacht, dass das eigentlich deprimierende Thema “Armut und Hartz IV” so spannend und geradezu fesselnd vermittelt werden kann? Christoph Butterwegge, er sprach am Dienstag im Treffpunkt Petershausen auf Einladung der Linken zum Thema, kann das.

Die zentrale These des Armutsforschers: Die 2005 von der Regierung Schröder in Kraft gesetzten Agenda-Gesetze haben zentrale sozialstaatliche Elemente der Bundesrepublik beseitigt. Ihr Zweck war nie, die Erwerbslosigkeit zu bekämpfen; es ging von Beginn an darum, auf dem Rücken von Menschen zu sparen, die keine Lohnarbeit finden. Gewünschter Effekt war nach Butterwegges Überzeugung die Schaffung eines Niedriglohnsektors, der dem kapitalistischen Wirtschaftsmodell neoliberaler Prägung zusätzliche Profite bescheren sollte.

Und das hatte, so der Wissenschaftler, nicht nur soziale Folgen: Wenn dauerhaft fast jeder Vierte sein Leben an oder unter der Armutsgrenze fristen muss, gerät auch die Demokratie in Gefahr. Für Butterwegge ist der vielbemühte Begriff der “Politikverdrossenheit” deshalb irreführend. Dass immer mehr Menschen sich beispielsweise nicht mehr an Wahlen beteiligten, liege vor allem daran, dass sie mit ganz andere Problemen zu kämpfen haben und zudem – zu Recht – den Eindruck gewinnen müssten, die Politik habe sie dauerhaft abgeschrieben.

Trotz bestem Biergarten-Wetter fanden 35 Interessierte den Weg nach Petershausen, eine lebhafte Diskussion und geselliges Beisammensitzen beim Griechen um die Ecke rundeten einen sinnvoll verbrachten Hochsommerabend ab. Kurz vor der Veranstaltung hatte das Online-Magazin seemoz ein Interview mit dem renommierten Politikwissenschaftler geführt, das seine an diesem Abend vorgetragenen Thesen auf den Punkt bringt und das wir deshalb für alle dokumentieren, die verhindert waren. Christoph Butterwegges Fazit an diesem Abend ergänzen wir gerne: “Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.”

„Armut in einem reichen Land“ ist der Titel einer Diskussion, die Sie am Dienstag in Konstanz anstoßen werden. Glauben Sie wirklich, dass Deutschland durch die Hartz-Gesetze zu einem anderen Land geworden ist?
Ja, ich spreche von einer Hartz-IV-Gesellschaft, denn mit den rot-grünen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen wurde eine Rutsche in die Armut errichtet. Für Familien war besonders der Wegfall einmaliger Leistungen und Beihilfen bitter. Vor den Hartz-Gesetzen lebten ungefähr eine Million Kinder auf dem Sozialhilfeniveau, kurz nach ihrem Inkrafttreten waren es fast doppelt so viele. Auch erwies sich das Versprechen des „Förderns und Forderns“ als bloßer Werbeslogan der Regierung. Aufgrund der Hartz-Gesetze sind Millionen Menschen im Niedriglohnsektor gelandet.

War das Absicht?
Dies war durchaus gewollt, hat der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder doch sich und seine Regierung auf dem Weltwirtschaftsforum 2005 für die Schaffung eines der effektivsten Niedriglohnsektoren in Europa gelobt. Neben der verschärften sozialen Spaltung in Arm und Reich zeichnet sich auch eine  stärkere politische Zerklüftung unseres Landes ab: Da sich die Hartz-IV-Betroffenen kaum noch an Wahlen beteiligen, die Wahlbeteiligung der Wohlhabenden und Reichen jedoch ungebrochen ist, gerät dieDemokratie in eine Repräsentations- und Legitimationskrise.

Die Armutsfalle wirkt doppelt: Zum einen schränkt sie die direkt Betroffenen in ihren Lebensmöglichkeiten ein, zum anderen erhöht sie den Druck auf die noch Beschäftigten – sie diszipliniert und schüchtert ein. Ist die Arbeitnehmerschaft in Deutschland zur Manövriermasse geworden?
Das war aus meiner Sicht der mit Hartz IV verfolgte Hauptzweck: Belegschaften, Betriebsräte und  Gewerkschaften sollten unter verstärkten Druck gesetzt und unter dem Damoklesschwert von Hartz IV  genötigt werden, schlechtere Arbeitsbedingungen sowie niedrigere Löhne und Gehälter hinzunehmen.  Seither gibt es vor allem im unteren Lohnbereich anhaltende Reallohnverluste. Da niedrige Löhne nun mal hohe Gewinne bedeuten, hat sich durch die Liberalisierung der Leiharbeit, die Schaffung von Mini- und Midi-Jobs und die Vermehrung der prekären Beschäftigungsverhältnisse die Situation für die meisten Firmen verbessert. Am meisten profitiert haben Unternehmer, die Lohndumping betreiben und Hungerlöhne zahlen wollten. Durch das „Aufstocken“ mit Hartz IV werden sie mit Steuergeldern subventioniert: 75 Mrd. Euro hat der Staat seit 2005 dafür ausgegeben.

Der Einfluss der Gewerkschaften, die Rolle der SPD als Arbeitnehmer-Partei hat merklich gelitten. Was empfehlen sie diesen Organisationen ohne Einfluss?
Die Gewerkschaften haben sich in der Hartz-Kommission, die das VW-Vorstands- und IG-Metall-Mitglied Peter Hartz leitete, über den Tisch ziehen und in den Reformprozess der rot-grünen Agenda 2010 einbinden lassen. Sie müssten sich heute ebenso wie die SPD, deren irrlichtender Vorsitzender Sigmar Gabriel offenbar von der FDP das „Projekt 18“ für seine Partei entlehnt hat und diese als Minister immer weiter herunter wirtschaftet, von den „Agenda“-Reformen distanzieren, um an Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft zu gewinnen. Ohne dass Hartz IV in zentralen Punkten revidiert und eine bedarfsgerechte, armutsfeste und  repressionsfreie Grundsicherung für Langzeiterwerbslose geschaffen wird, lässt sich die Würde der Arbeit nicht wieder herstellen.

Drohen mithin in Deutschland und anderen europäischen Ländern alsbald „griechische Verhältnisse“, droht eine Verarmung europaweit?
Zumindest besteht die Tendenz, dass sich die Armut in die Mitte unserer Gesellschaft hinein ausbreitet und dort verfestigt. Auch dürfte es mehr absolute, existenzielle bzw. extreme Armut geben, wenngleich sicher nicht in demselben Ausmaß wie in Griechenland, wo ganze Bevölkerungsschichten verelenden und die Suppenküchen wie Pilze aus dem Boden schießen. Bis in kritische Medien hinein wird von der Bundesrepublik als einer Gesellschaft gesprochen, in der es fast ausschließlich relative Armut gibt. Das heißt: Die Grundbedürfnisse der Menschen können befriedigt werden, das Problem der Armen besteht „nur“ in mangelnder Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Ich widerspreche dieser Einschätzung. Es gibt auch wieder größere Teile der Bevölkerung, die absolute Armut fürchten müssen. Schon längst trifft dies sogenannte Illegale – ich nenne sie lieber: illegalisierte Migrantinnen und Migranten. Auch sehr viele aus den EU-Ländern Rumänien und Bulgarien Zugewanderte leben in menschenunwürdigen Verhältnissen und werden sozial ausgegrenzt.

Was ist Ihr Rezept? Wie kommen die Deutschen aus dieser Armutsfalle heraus?
Zwar gibt es kein Patentrezept, man könnte Armut und soziale Ungleichheit jedoch auf unterschiedlichen Politikfeldern bekämpfen. Beispielsweise würde ein deutlich höherer Mindestlohn ohne die von der großen Koalition beschlossenen Ausnahmen den Niedriglohnsektor als Haupteinfallstor von Erwerbs- und späterer Altersarmut eindämmen. Außerdem muss es viel mehr Kontrolleure und Kontrollen geben, damit die Strategie von Unternehmen, den Mindestlohn zu unterlaufen, durchkreuzt wird. Bei Hartz IV wäre das Wichtigste ein Sanktionsmoratorium, um die harte Sanktionspraxis der Jobcenter später ganz zu beenden. Da jungen Menschen bei der zweiten Pflichtverletzung nicht bloß die Geldleistungen gestrichen, sondern auch Miet- und Heizkosten nicht mehr bezahlt werden, produziert der Staat hier Obdachlosigkeit. Die Hartz-IV-Regelsätze müssten erhöht werden, damit gerade Familien mit Kindern nicht mehr ohne die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe am soziokulturellen Existenzminimum leben müssen. Längerfristig würde ich mir eine solidarische Bürgerversicherung wünschen, in die alle Wohnbürger einzahlen, auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister. Beitragsbemessungsgrenzen und Versicherungspflicht- bzw. -fluchtgrenzen müssten wegfallen, alle Einkommen, auch Miet- und Pachteinnahmen, Dividenden, Zinsen usw. einbezogen werden. So könnte man den Sozialstaat wieder auf ein festes finanzielles Fundament stellen und ihn weiter aus- statt abbauen.

Die Fragen stellte Hans-Peter Koch

Linke-Kreisräte: Keine Unterstützung für diskriminierende Resolution

Der Konstanzer Landrat Frank Hämmerle (CDU) will am kommenden Montag eine Resolution in den Kreistag einbringen, mit der das Gremium auf eine gemeinsame Position in der Flüchtlingspolitik eingeschworen werden soll. In einer Mitteilung an die Medien haben die beiden Kreisräte der Konstanzer Linken, Marco Radojevic und Hans-Peter Koch, begründet, warum sie diese Resolution nicht unterstützen werden. Die Stellunngnahme der Linken-Vertreter im Wortlaut:

Die Kreisräte der LINKEN Konstanz werden der Resolution zum Thema Asyl und Unterbringung der Flüchtlinge im Landkreis nicht zustimmen. Die Resolution, die von Landrat Hämmerle auf der Kreistagssitzung am 27.7. zur Diskussion gestellt werden soll, fordert die Bundes- und Landesgesetzgeber zwar auf, Verbesserungen für Flüchtlinge mit Bleiberechtsperspektive, wie z. B. die Verkürzung des Arbeitsverbots, zu beschließen, zielt aber in ihrem Wesenskern auf weitere Restriktionen gegenüber Flüchtlingen vor allem aus den Westbalkanstaaten ab.

Die Resolution fordert Bundes- und Landesgesetzgeber auf, dem „Migrationsdruck“ aus diesen Ländern Einhalt zu gebieten, die von dort Geflüchteten zeitnah abzuschieben und spricht sich zudem dafür aus, „materielle Anreize“ für Flüchtlinge aus „sicheren“ Herkunftsländern zu verringern.

Gerade Roma, die in den Staaten des westlichen Balkan nach wie vor systematischer Diskriminierung ausgesetzt sind, brauchen – auch aufgrund der deutschen Geschichte – keine zeitnahe Abschiebung in eine ihnen gegenüber feindlich eingestellte Gesellschaft, sondern unbedingte Solidarität und eine Bleiberechtsperspektive in Deutschland. Zu behaupten, dass Menschen aus den „sicheren“ Herkunftsländern aufgrund von materiellen Anreizen fliehen würden, bedient auch die verbreiteten Vorurteile in der deutschen Bevölkerung gegenüber Roma, welche unlängst von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in einer Studie festgestellt wurde.

DIE LINKE Konstanz hält es für fatal, die menschenwürdige Unterbringung von Flüchtlingen aus verschiedenen Staaten gegeneinander auszuspielen. Hierdurch werden nicht nur Ressentiments gefördert, wonach Flüchtlinge aus „sicheren“ Herkunftsländern als Schmarotzer zu betrachten seien – was den Ausländerfeinden in unserer Gesellschaft in die Karten spielt. Dieses Vorgehen negiert auch die individuellen Fluchtgeschichten und Fluchtursachen.

Die Kreisräte der LINKEN haben den Landkreis Konstanz bisher in seinen Bemühungen, die Flüchtlinge unterzubringen, politisch unterstützt. Die Sprache, die aber in dieser Resolution gegenüber den Schwächsten in der Gesellschaft verwendet wird, ist ein gefährlicher Schritt in die falsche Richtung und wird mit unserem scharfen Protest zu rechnen haben. Wir fordern die anderen Fraktionen im Kreistag auf, darüber nachzudenken, welches Signal der Kreistag durch die Verabschiedung dieser Resolution senden würde und fordern deshalb eine Ablehnung dieses Entwurfs.

Marco Radojevic, Hans-Peter Koch
Konstanzer Kreisräte der Partei DIE LINKE

Musikern des Roma Balkan Express droht Abschiebung

roma-balkan-expressRund um den Bodensee kennen sie inzwischen viele, auch in Freiburg und sogar in Magdeburg standen sie schon auf der Bühne: Die acht Musiker der Flüchtlingsband Roma Balkan Express haben mit ihren Auftritten bei Flüchtlingsfesten, Festivals und Konzertveranstaltungen Tausende in ihren Bann gezogen. Jetzt droht den Mitgliedern des Bläser-Ensembles, wie vielen Roma, die Abschiebung im Schnellverfahren. Grund ist die verschärfte asylpolitische Gangart des Bundesinnenministeriums und der Innenministerkonferenz. Flüchtlingsaktivist_innen haben eine Petition dagegen initiiert.

Die Musiker gehören der Ethnie der Roma an, die in ihrem Heimatland Serbien systematisch drangsaliert und diskriminiert wird. In vielen Staaten Europas, besonders aber auf dem Westbalkan, leben Roma nicht nur buchstäblich am Rand der Gesellschaft sondern auch in ständiger Angst vor gewalttätigen Übergriffen. Viele sehen in dieser verzweifelten Situation die Flucht in vermeintlich sicherere Länder der EU als den einzigen Ausweg, so auch die Musiker des Roma Balkan Express. Sie waren unabhängig voneinander geflohen und landeten auf ihren Irrwegen schließlich in Flüchtlingsunterkünften in Radolfzell, Rielasingen, Bodman, Stockach und Tuttlingen.

Der Freundeskreis Asyl Radolfzell, der viele Geflüchtete in der Region unterstützt, war auf die Musiker aufmerksam geworden und hatte sie im Februar zusammengebracht. Innerhalb weniger Wochen formierten sie sich zu einer eingespielten Truppe, die seither eine wachsende Zahl von Konzertbesucher_innen in Begeisterung versetzt. Das ist selbst Behörden und Rathäusern nicht verborgen geblieben. So musizierten sie beispielsweise beim Radolfzeller See-Ufer und die Stadt Singen hat die Flüchtlingskombo bis Oktober gleich für drei Gigs gebucht.

Sonderlager geplant

Doch nicht nur diese Auftritte könnten nun platzen. Denn Mitte Juni hat die Innenministerkonferenz der Länder einen Vorstoß des Bundesinnenministers Thomas de Maizières gebilligt, der für Geflüchtete aus den Westbalkanländern, vor allem Sinti und Roma, eine Spezialbehandlung vorsieht. Sie sollen künftig in zwei bis drei Sonderlager mit 3.000 bis 5.000 Plätzen verbracht werden. Beamte der Außenstellen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sollen dort dann innerhalb weniger Tage über Asylanträge beschließen, Widerspruchsverfahren abwickeln und die Betroffenen umgehend abschieben lassen.

Die Absicht von Bund und Ländern ist klar und wird von Politikern, auch der baden-württembergischen grün-roten Koalition, offen ausgesprochen. Nachdem man Länder wie Serbien wider besseren Wissens kurzerhand zu „sicheren Herkunftsländern“ deklariert hat, soll nun die Bürokratie auf Trab gebracht werden, um die Geflohenen so schnell wie möglich loszuwerden. Dass zahlreiche Flüchtlingsorganisationen Sturm gegen dieses Vorgehen laufen und beispielsweise Amnesty International scharf kritisiert, dass die Gewalttäter „von der passiven Haltung der Regierungen“ ermutigt werden, „die eine systematische Diskriminierung von Roma stillschweigend hinnehmen“, kümmert die verantwortlichen Politiker wenig. Sie wollen den steigenden Flüchtlingszahlen damit begegnen, dass man einer Opfergruppe die Berechtigung abspricht, um Hilfe vor Verfolgung und Diskriminierung zu bitten.

Online-Petition für Bleiberecht

Gegen diese neuerliche Verschärfung der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik, von der nun auch die Musiker des Roma Balkan Express bedroht sind, rührt sich in der Region erster Widerstand. Der Freundeskreis Asyl Radolfzell hat eine auch von weiteren flüchtlingspolitischen Gruppen unterstützte Online-Petition lanciert, die ein Bleiberecht für die acht Musiker fordert. „In Serbien haben die Band-Mitglieder die institutionelle und alltägliche Diskriminierung gegenüber der Volksgruppe der Roma erfahren. Bei uns haben sie davor Schutz gesucht“, heißt es darin und weiter: „Mit ihrer Musik haben sie die Gelegenheit ergriffen, für die Sache der Flüchtlinge und für eine wahrhaft offene und vorurteilsfreie Gesellschaft zu werben. Jetzt hätten die Behörden eine großartige Gelegenheit, Großmut und Dankbarkeit für den Beitrag der Band zu zeigen“.

jüg

Die Linke Liste ruft zur Unterstützung der Petition auf:
Bleiberecht für alle Musiker des Roma Balkan Express!

Roma Balkan Express

Foto: Nico

Sommertour in Singen: Linke-Vorsitzender im Gespräch mit Gewerkschaftern

Seine politische Sommertour führte Bernd Riexinger am 14. Juli nach Singen. Dort stand für den Linke-Vorsitzenden, der auch als Spitzendandidat der Partei zur Landtagswahl im März antreten wird,  unter anderem ein Treffen mit Gewerkschaftern der IG Metall auf dem Programm. Im Gespräch mit Vertrauensleuten und Betriebsräten großer und mittlerer Unternehmen im Landkreis bestätigte sich die Notwendigkeit der Kampagne “Das muss drin sein”: Leiharbeit, befristete Einstellungen und Werkverträge sind auch in der Metall- und Elektroindustrie der Region ein Riesenproblem.

Der 2. Bevollmächtigte der IGM-Verwaltungsstelle, Raoul Ulbrich, kritisierte neben der ausufernden Leiharbeit insbesondere auch die Praxis der Unternehmensführungen, zunehmend mit dem Abschluss von Werkverträgen zu operieren: Selbst Ingenieure verdienten dann im Vergleich mit Stammmitarbeitern um bis zu 30 Prozent weniger. Betriebsräte und Vertrauensleute unter anderem von Siemens, Georg Fischer und Allweiler beklagten den Druck, der durch Befristung und Leiharbeit auch auf die Stammbelegschaften ausgeübt werde. Gegenwehr sei unter diesen Bedingungen nur schwer zu organisieren.

Der Linke-Vorsitzende verwies darauf, dass der neoliberale Umbau der Gesellschaft dazu geführt habe, dass viele Menschen in prekäre Beschäftigungs- und damit Lebensverhältnisse abgedrängt wurden. Das Beschäftigungswunder, von dem Merkel schwärme, sei damit erkauft, dass mehr als 20 Prozent der Bevölkerung dauerhaft unter Bedingungen leben müsse, die sie von einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließe, und das trotz brummender Konjunktur. Schon die nächste Krise, prognostiziert er, wird einen weiteren Schub auslösen, der noch mehr Menschen in prekäre Verhältnisse abdrängt.

Riexinger warb deshalb dafür, dass sich die Gewerkschaften wieder verstärkt in die politischen Auseinandersetzungen um die Gestaltung der Arbeits- und Lebensbedingungen einmischen. Die soziale und kulturelle Ausgrenzung müsse zum gesellschaftlichen Thema gemacht werden. Mit ihrer Kampagne “Das muss drin sein” will die Linke einen Beitrag dazu leisten. Den für den Herbst geplanten Aktionen der IG Metall gegen den Missbrauch von Werkverträgen sagte Bernd Riexinger die Unterstützung der Linkspartei zu, auch der Konstanzer Kreisverband will sich daran beteiligen.

jüg

10 Jahre Hartz IV: Armut in einem reichen Land – Veranstaltung mit Christoph Butterwegge

Prof. Dr. Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Autor des Buches Armut in Deutschland - 1/2010 Foto: Wolfgang Schmidt

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Autor des Buches Armut in Deutschland. Foto: Wolfgang Schmidt

Auf Einladung des Kreisverbands der Partei DIE LINKE spricht am 21. Juli Christoph Butterwegge in Konstanz über die Verwüstungen, die das Hartz IV-Gesetz in der Bundesrepublik angerichtet hat. Der Kölner Politikwissenschaftler und anerkannte Fachmann in Sachen Armutsforschung befasst sich seit Jahren mit den gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Folgen der sogenannten Agenda 2010, deren Kern das unter dem Stichwort „Hartz IV“ europaweit bekannt gewordene „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ ist.

Dieses Gesetz steht für den Abbau sozialer Leistungen und gilt hierzulande als tiefste Zäsur in der Wohlfahrtsstaatsentwicklung nach 1945: Zum ersten Mal wurde damit eine für Millionen Menschen in Deutschland existenziell wichtige Lohnersatzleistung, die Arbeitslosenhilfe, faktisch abgeschafft und durch eine bloße Fürsorgeleistung, das Arbeitslosengeld II, ersetzt.

Für Butterwegge ist Deutschland durch die Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, die Hartz-Reformen und besonders das am 1. Januar 2005 in Kraft getretene Hartz IV-Gesetzespaket zu einer anderen Republik geworden. Denn es hat nicht bloß das Armutsrisiko von Erwerbslosen und ihren Familien spürbar erhöht, sondern auch einschüchternd und disziplinierend auf viele Beschäftigte gewirkt. Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften wurden unter Druck gesetzt, Lohn- und Gehaltseinbußen sowie schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Heute gibt es deshalb vermehrt Armut trotz Arbeit, die Lohnspreizung hat zugenommen. Ein ausufernder Niedriglohnsektor, der inzwischen fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst, gehört ebenso zu den Folgen wie Entsolidarisierungstendenzen und größere soziale Kälte.

Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft am Institut für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. In seinen Publikationen und öffentlichen Meinungsäußerungen setzt er sich leidenschaftlich für Menschen ein, die gesellschaftlich nur schwer zu Wort kommen und prangert soziale Missstände an. Kürzlich ist sein Buch „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“ (290 Seiten; 16,95 Euro) bei Beltz Juventa erschienen.


Dienstag, 21. Juli 2015
Konstanz, Treffpunkt Petershausen, 19.00 Uhr
10 Jahre Hartz IV und die Folgen: Armut in einem reichen Land

Fähren statt Frontex – Heike Hänsel zu Fluchtursachen und den Umgang mit Geflüchteten

Flüchtlinge schützenUnter dem Titel „Schlepper? Schleuser? Menschenhändler? Die wahren Ursachen von Flucht und Asyl“ referierte Heike Hänsel, Bundestagsabgeordnete und entwicklungspolitische Sprecherin der Linken, in der Konstanzer Uni über Fluchtursachen und sah Gründe dafür in der deutschen und europäischen Handels-und Sicherheitspolitik.

„Die derzeitige EU-Politik ist nur repressiv“, erklärt die Bundestagsabgeordnete, „die Berichterstattung und die Suche nach Gründen sind sehr einseitig.“ Die Schleppernetzwerke als Hauptursache für die Migration nach Europa zu sehen, sei zu kurz gefasst. Vielmehr sei die neoliberale Handelspolitik der EU maßgeblich verantwortlich für Fluchtbewegungen weltweit.

Als entwicklungspolitische Sprecherin konnte Heike Hänsel hier einen detaillierten Einblick geben. Viele Länder, beispielsweise in Afrika, seien über neokoloniale Abhängigkeiten fest an die EU gebunden. Während diese Länder mit billigen Agrarprodukten sowie Waren aus Europa überschwemmt werden, werden dort geförderte Rohstoffe billig in die EU importiert. Sowohl Importzölle für Waren aus der EU als auch Zölle für Exporte in die EU sollen in diesen Ländern, unter massiver Kritik von Entwicklungsorganisationen, weiter gesenkt werden. Was das für regionale Märkte, Kleinbauern und die Volkswirtschaften bedeutet, liegt auf der Hand. „Wir erleben eine Verarmung bei gleichzeitiger Konzentration von Macht zum Beispiel durch Landübernahme“, resümiert Hänsel.

Die Veranstaltung wurde moderiert von Simon Pschorr, Landtags-Kandidat der Linken in Konstanz. Organisiert wurde sie von der Hochschulgruppe linksjugend [‘solid] der Uni Konstanz.

Über sogenannte Freihandels- und Wirtschaftspartnerschaftsabkommen soll diese Handelspolitik noch weiter verschärft werden. „TTIP ist da nur das bekannteste, dabei gibt es unzählige weitere Abkommen dieser Art“. Es herrsche ein regelrechter Handelskampf um den Zugang zu Ressourcen, Land und Märkten. Die EU gehe in die Offensive und in Konkurrenz zu den anderen Großmächten und versuche, so viele bilaterale Abkommen wie möglich auf den Weg zu bringen.

Handelspolitik = Flüchtlingsabwehr

Diese Handelspolitik stehe außerdem im Lichte des Grenzschutzes und der Flüchtlingsabwehr. „In jedem Handelsvertrag gibt es auch ein Migrationskapitel“, erklärt Heike Hänsel. „Dort wird von irregulärer Migration geredet, von Flüchtlingsabwehr und davon, die Grenzsicherung zugunsten der Interessen der EU auszuweiten. Es gibt also eine immer weitere Grenzverlagerung in die Länder des Südens“, stellt die entwicklungspolitische Sprecherin der Linken fest.

Was den Umgang mit den Problemen von Flucht angehe, gebe es zwar viele schöne Reden im Bundestag, aber wenig konkrete Vorschläge. Insgesamt bestehe wenig Interesse, sich mit dem Thema Fluchtursachen auseinanderzusetzen. Die Bundesregierung selbst sei zwar regelmäßig bestürzt über Tragödien im Mittelmeer, handle aber dennoch repressiv und rein militärisch. Die Hauptursache ist schnell gefunden, Schleusernetzwerke müssen bekämpft werden. Die Antwort auf die Flüchtlingsnot im Mittelmeer ist also ein Militäreinsatz. Die Militärmission soll umfassende Aufklärung über Routen von Schleppern leisten sowie Schleuser auf hoher See festnehmen und verhören. Noch kein Mandat gebe es für die militärische Zerstörung von Schlepperbooten beispielsweise an der Küste Libyens. Und was denn genau ein „Schlepperboot“ sei und wie man das von Booten für die reguläre Schifffahrt abgrenzen könne, blieb im Bundestag ebenfalls unklar. Von einer zivilen Seenotrettungsmission, wie sie DIE LINKE fordert, fehlt bislang jede Spur.

„Das Aussetzen von ,Mare Nostrum‘ war politisch gewollt und lag nicht an Ineffizienz oder zu hohen Kosten“, stellt die Linken-Abgeordnete fest. Eine praktizierte Seenotrettung wäre ja eine direkte Botschaft an Flüchtlinge und Schlepper, die Überfahrt zu wagen, so laute sinngemäß der derzeitige Konsens der EU. Die Aussetzung von Mare Nostrum diente somit, unter Inkaufnahme von Toten, der Abschreckung.

Flüchtlinge aus Kriegsregionen

Auch in der Außenpolitik verfolgen Bundesregierung und EU eine konfrontative Strategie der massiven politischen Intervention. Sie setze nicht auf den Versuch der Deeskalation und der Verständigung. Rüstungsexporte in unsichere Länder wie Saudi Arabien, Algerien oder Katar befeuern indirekt jene Konflikte, die schon jetzt ungeheure Fluchtbewegungen ausgelöst haben.

Auch die Erweiterung der NATO-Präsenz nach Osten setze auf Konfrontation und lasse neue Konfliktherde entstehen. Seit dem Beginn der Ukraine Krise hätten etwa 4000 Personen, in großer Anzahl Kriegsdienstverweigerer, Asyl in Deutschland gesucht.

In Deutschland trifft die Bundesregierung zunehmend Maßnahmen, die Flüchtlinge zu kriminalisieren und ihre Rechte und Möglichkeiten zu untergraben. Ein erst letzte Woche erlassenes Gesetz ermöglicht es nun, Geflüchtete ohne Pass sowie nachweislich durch Schlepper Gekommene und jene, bei denen ein noch nicht beendetes Asylverfahren aus einem anderen Land anhängig ist, zu inhaftieren. Für Heike Hänsel ist dies ein direkter Angriff auf die Rechte von Flüchtlingen.

Fähren statt Frontex

„Wenn diese Politik so weitergeht, werden wir mit ganz neuen Flüchtlingszahlen konfrontiert werden“, so das Fazit von Frau Hänsel. Es brauche eine Außenpolitik der Verständigung und nicht der Abschottung. „Wir brauchen dringend humanitäre Visa, das heißt legale Einreisemöglichkeiten. Außerdem müssen wir unsere zivilen Strukturen stärken, die vertrauensfördernd wirken, anstatt militärische Blöcke einzusetzen. Eine Seenotrettung haben wir ja bereits in Deutschland, aber die wurde überhaupt nicht in Betracht gezogen.“

In die mediale Offensive gehen

Wichtig sei es, so findet Heike Hänsel, dass sowohl die Parteien als auch Bürgergruppen, Ehrenamtliche und Initiativen, die einen Beitrag zu einer Willkommenskultur leisten, in die Offensive gehen. Man müsse eine Gegenstimme zur derzeitigen Berichterstattung leisten. Denn diese würde instrumentalisiert, sei sehr einseitig, zum Teil propagandistisch und führe zu Ressentiments innerhalb der Bevölkerung.

RCG/red (zuerst erschienen bei seemoz)

Jetzt erst recht: TTIP stoppen!

Fair handeln – TTIP stoppen!Eine Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen hat am 8. Juli die Position des Europäischen Parlaments (EP) zu dem umstrittenen Freihandelsabkommen der EU mit den USA mit großer Mehrheit verabschiedet. „Nach faulem Kompromiss zu Konzernklagerechten: TTIP stoppen“ so der Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Bernd Riexinger. Er erklärt:

DIE LINKE sowie ein breites Bündnis aus Gewerkschaften und NRO machen sich stark für einen gerechten Welthandel. Das geplante TTIP-Abkommen ist ein Angriff auf wichtige Rechte und Schutzstandards, die die Europäerinnen und Europäer seit dem 19. Jahrhundert errungen haben, und ordnet diese Konzerninteressen unter.

Eine Koalition aus Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen hat heute die Position des Europäischen Parlaments (EP) zu dem umstrittenen Freihandelsabkommen der EU mit den USA mit großer Mehrheit verabschiedet.

Grund für die plötzliche Einigung war ein Kompromissantrag von EP-Präsident Martin Schulz zu Sonderklagerechten für Konzerne. Die hoch umstrittenen Schiedsgerichte werden einfach nicht mehr „ISDS“ genannt. Fakt ist aber: Investoren bekommen eine Sonder-Gerichtsbarkeit fernab ordentlicher Gerichte, die sich ausschließlich um das Wohl der Investoren bemüht. Aus der Werbebranche kennt man solche Tricks. Die Juniortüte heißt heute Happy Meal – drin steckt dasselbe nährstoffarme Zeug.

Abgeordnete, die gegen ISDS sind, konnten heute nur noch gegen die gesamte Resolution stimmen. Das von Schulz gewählte Verfahren war ein Winkelzug, um TTIP-kritische Parteikollegen auf Linie zu bringen.

Die SPD ist bei TTIP umgekippt. Jetzt braucht es noch mehr Druck der Bürgerinnen und Bürger. DIE LINKE ruft gemeinsam mit einem breiten Bündnis aus Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen zu einer Großdemonstration am 10. Oktober nach Berlin auf, denn noch können wir diese unsinnigen und gemeingefährlichen Abkommen mit den USA und Kanada noch stoppen!

Die städtischen Kassen leeren sich nur langsam

Angesichts voller Kassen sind alle zufrieden, sollte man meinen. Aber manche im Haupt- und Finanzausschuss (HFA) des Konstanzer Gemeinderates hatten am Dienstag trotz der derzeitigen (ausgezeichneten) Kassenlage auch etwas auszusetzen: Den Projektstau vor allem bei Bauvorhaben. Und bei aller Freude über den milden Gewerbesteuerregen im Konstanzer Stadtsäckel machte man sich auch gleich noch Gedanken über die Personalkosten der Stadt. Schlechte Zeiten also für städtische Angestellte?

Vor allem der Gewerbesteuer ist es zu verdanken, dass die noch vor einem Jahr herrschende Panik, der Haushalt 2016 werde ein reiner Katastrophenverwaltungs-Haushalt, bei den meisten Rätinnen und Räten eher einer gelassenen Großzügigkeit gewichen ist. Selbst der kraft seines Amtes bärbeißigste aller Berufspessimisten, Stadtkämmerer Hartmut Rohloff, hatte gelegentlich einen unkontrollierten Anflug von Lächeln auf dem Gesicht, als er die seit einiger Zeit bekannten Zahlen präsentierte: Die Stadt kann aus heutiger Sicht in diesem Jahr eine Rücklage von ca. 7,5 Millionen Euro bilden und wird das Jahr 2016 ohne Neuverschuldung meistern. Zu verdanken ist dies nicht nur einmaligen hohen Gewerbesteuernachzahlungen, sondern auch erhöhten Gewerbesteuervorauszahlungen.

Projektstau

Aber Rohloff wäre kein altgedienter Stadtkämmerer, hätte er nicht gleich auch ein paar Wermutstropfen in den Beruhigungstee erhöhter Einnahmen gemischt. Er verwies darauf, dass die Gewerbesteuereinnahmen genauso plötzlich wieder einbrechen können, und die Gewerbesteuer ist für die Stadt eine extrem wichtige Geldquelle. (Dessen wird man sich wohl irgendwann in schlechten Zeiten auch wieder erinnern, denn die Konstanzer Gewerbesteuerhebesätze haben im Landesvergleich durchaus noch Luft nach oben.)

Sorge bereitet Rohloff allerdings der Mittelabfluss für investive Maßnahmen, „gerade beim Bau muss die Vorplanung schneller gehen“ meinte er. Das heißt: Die Verwaltung kriegt geplante (Bau-) Projekte nicht pünktlich auf die Reihe, sei es, dass sie personell unterbesetzt ist, sei es, dass es bei der Planung hakt, Gründe wurden nicht genannt. Jürgen Puchta (SPD), hier ganz auf einer neoliberalen Linie, schlug als Lösung vor, mehr Projekte an externe Unternehmen zu vergeben und brachte außerdem erneut ins Gespräch, jetzt wo Geld da sei, die Marktstätte früher als geplant zu sanieren.

Zu wenig Personal?

Aber auch einige Räte sahen trübe Wolken am eher klaren Horizont: Roger Tscheulin (CDU) murrte der Verwaltung gegenüber, dass eigentlich eingeplante Zuschüsse an die Stadt von etwa 878.000 Euro nicht kommen werden. Glücklich zeigte er sich hingegen darüber, dass im zweiten Quartal die Personalkosten geringer ausgefallen sind als erwartet – auf die Idee, der beklagte Projektstau könne auch mit einer zu dünnen Personaldecke in der städtischen Verwaltung zusammenhängen, kam bei allen Klagen niemand.

Oberbürgermeister Uli Burchardt verwies darauf, dass die Stadt gerade eine ausführliche Aufgabenkritik und Organisationsuntersuchung durchführt, und Thomas Traber, Leiter des Personal- und Organisationsamtes, verkündete, bis zum 30. Juni hätten die Ämter und Fachbereiche ihre Informationen und Einschätzungen für die Organisationsuntersuchung zusammengetragen, jetzt sei man dabei, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Außerdem beklagte er, dass ständig neue Personalkosten auf die Stadt zukämen, so etwa durch die/den neue/n Flüchtlingsbeauftragte/n und die anstehenden Tariferhöhungen.

Kurzum, die Stadt versucht, auch weiterhin beim Personal zu sparen, wo es geht, und der Druck auf die städtischen Angestellten dürfte in nächster Zeit nicht nachlassen. Wenn Günter Beyer-Köhler (FGL) anmahnte, man solle über der guten Haushaltslage die Aufgaben- und Organisationskritik nicht vergessen, dürften Angestellte der Stadt das eher als Drohung verstehen, denn eine solche Aufgabenkritik soll natürlich vor allem Stellen einsparen oder Mehrarbeit rechtfertigen und nur ganz nebenher umständliche Abläufe effektiver gestalten.

The same procedure as every year?

„Es ist das gleiche Ritual wie immer,“ klagte Stadtkämmerer Hartmut Rohloff über die bisherigen Ergebnisse, „die meisten Ämter haben einen Mehrbedarf angemeldet.“ Würde man die vorliegenden Bedarfsanmeldungen für die kommenden Jahre akzeptieren, werde das seiner Meinung nach am Ende doch noch zu einer Neuverschuldung führen. „Wir brauchen ein geschärftes Kostenbewusstsein!“, so sein Resümee für die im Herbst anstehenden Haushaltsberatungen für 2016 und den in einem Jahr folgenden Doppelhaushalt 2017/2018.

Da passte es ins Bild, dass es der HFA nach kürzerem Hin und Her ablehnte, im Ausländeramt eine zusätzliche Stelle einzurichten. Angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen und schon jetzt mehrmonatiger Warte- und Bearbeitungszeiten sei es, so begründete Matthias Schäfer diesen Antrag der JFK, an der Zeit, dort sofort personell aufzustocken. Roger Tscheulin (CDU) grantelte etwas von „Populismus“, und Hans-Rudi Fischer, der Leiter des Bürgeramtes, argumentierte, dass sein Amt diese neue Stelle gar nicht haben möchte, weil man sich von organisatorischen Änderungen wie der Terminvergabe über das Internet statt per Telefon und einem neuen Serviceschalter eine erhebliche Entlastung bei der täglichen Arbeit vor allem mit Flüchtlingen verspreche. Unterstützung erhielt der Antrag zwar noch von Anke Schwede (LLK), er wurde dann aber mit großer Mehrheit abgelehnt.

Man darf also vor allem erst einmal gespannt sein, welche Ergebnisse der Organisationsuntersuchung die Verwaltung im Herbst vorlegt und welche Forderungen an die Beschäftigten daraus abgeleitet werden. Dann könnte vor allem der Personalrat gefragt sein, denn etwas Gutes für die Beschäftigten führt man mit solchen Untersuchungen bekanntlich selten im Schilde.

O. Pugliese

Bernd Riexinger auf Sommertour im Kreis Konstanz

Bernd Riexinger - Das muss drin seinAm Dienstag, 14. Juli, besucht Bernd Riexinger, der Bundesvorsitzende der Partei DIE LINKE, den Kreis Konstanz. Auf dem Programm stehen unter anderem ein Redaktionsgespräch beim Südkurier in Konstanz, ein Treffen mit Gewerkschaftern und eine Abendveranstaltung im Restaurant „Goldene Kugel Ristorante Pizzeria Sabino“ in Singen.

Bernd Riexinger absolviert im Juli eine Sommertour durch verschiedene Städte Baden-Württembergs, am 14.7. macht er dabei Station in Konstanz und Singen. Der Parteivorsitzende, selbst lange aktiv bei ver.di, will bei seinem Besuch in Singen auch mit Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen ins Gespräch kommen. Als Vorsitzender einer Partei, für die der Kampf um die Rechte der arbeitenden Menschen im Zentrum ihrer Politik steht, will er sich darüber informieren, wo Gewerkschaftsaktivisten – Mitglieder, Vertrauensleute, Personalräte – vor Ort der Schuh drückt und vor allem welche Erwartungen sie an linke Politik formulieren. Die Möglichkeit dazu bietet ein Gespräch im Singener Gewerkschaftshaus, zu dem die Linke und die IG Metall einladen.

Am Abend steht dann eine öffentliche Veranstaltung in Singen auf dem Programm. Riexinger, die baden-württembergische Linke hat ihn auch als Spitzenkandidat für die Landtagswahl im März nächsten Jahres nominiert, wird dort unter anderem Rede und Antwort zur aktuellen Partei-Kampagne „Das muss drin sein“ stehen, die auf die Verankerung von Mindeststandards bei Einkommen und Arbeitsbedingungen zielt.

red


Dienstag, 14. Juli 2015

14.30 Uhr: Bernd Riexinger im Gespräch mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern
Singen, Gewerkschaftshaus, Schwarzwaldstraße 30

19.00 Uhr: „Das muss drin sein!“ Veranstaltung
Singen, Restaurant „Goldene Kugel Ristorante Pizzeria Sabino“, Alpenstraße 15